Tal ohne Sonne
in immer heller werdenden Tönen. Auch Lakta wich zurück und fiel auf die Knie. Die vier Söhne standen wie versteinert.
Sofort hatte Pater Lucius auf den Aufnahmeknopf gedrückt und nahm Dai Puinos Geschrei auf. Samuel, der hinter ihm stand, bebte am ganzen Körper. Diese Reaktion seiner Landsleute hatte er nicht erwartet. Er hatte geglaubt, sie würden lachen und sich freuen, ihre Stimme zu hören.
Pater Lucius spulte zurück und schaltete wieder auf ›Play‹. Laut schallten Dai Puinos Worte über den Platz. Das war ein Zauber, der alle traf. Die Götter hatten die Macht, die Seelen in einem kleinen Kasten einzufangen. Sie hielten die Stimmen fest, sie schufen ein zweites Leben …
»Samuel, sag ihm, daß wir mit der Hand alle Stimmen greifen können, die der Menschen, der Hühner, der Schweine, der Vögel, der Hunde, alle Stimmen. Wir können sie einfangen hier in diesem Kasten. Aber keinem geschieht etwas Böses, wenn er unser Freund ist.«
»Das ist doch ein ausgekochter Junge!« sagte Reißner lobend. »Sind eigentlich alle Priester so? Paßt auf, vier Wochen später erzählt er den Uma, daß sie alle Kinder Gottes sind und Gott jeden hört. Und dann spielt er sein Tonband ab. Ich möchte den sehen, der dann nicht die Händchen faltet!«
Samuel übersetzte unterdessen, was Pater Lucius gesagt hatte. Dai Puino hörte aufmerksam zu, betrachtete etwas scheu den kleinen schwarzen Kasten, den der Pater ihm unter die Augen hielt, und winkte einem seiner Söhne.
Er befahl ihm etwas, und der junge Krieger stieß krampfhaft ein paar Worte aus. Pater Lucius nahm sie auf und ließ sie dann wieder erklingen. Dai Puino riß die Augen auf, begann zu lachen, klatschte in die Hände und schrie etwas in die Gegend. Drei Frauen kamen in den Kreis, zwei trugen ein fürchterlich quiekendes Ferkel, die dritte ein flatterndes, kreischendes Huhn.
Wieder hielt Lucius das Mikrofon hin und nahm die Schreie auf. Als er dann aus dem Rekorder das Schweinequietschen herausließ, kannte Dai keine Hemmung mehr. Er riß dem Pater das Gerät aus der Hand und hüpfte unter dem Gegacker des Huhnes vor seinem Flugzeugsessel hin und her.
Ein vollkommener Sieg. Die fünfhundert Krieger lachten mit, die Scheu vor dem Zauber verflog. Der tapfere Sap Tanana erhob sich von der Erde, sah, daß er seine Seele noch besaß, daß er noch sprechen konnte, und hüpfte von einem Bein auf das andere. Die Frauen kreischten und warfen die Arme hoch in die Luft.
»Jetzt bin ich dran!« Reißner hängte sich die Polaroidkamera an einer Schnur um den Hals. »Der Pfaffe kann zwar Stimmen konservieren, aber ich zeige denen, wie man Köpfe macht. Das wird reinhauen, meine Lieben.«
Mit weiten, kräftigen Schritten ging Reißner auf Sap Tanana zu, zückte den Apparat und drückte ab. Es machte klick, Sap Tanana sah, daß etwas aus einem Schlitz herausschlüpfte, und wartete gespannt, was nun weiter geschah.
Reißner riß das Bild ab, löste das Deckblatt los und schwenkte das Foto durch die Luft. »In drei Minuten biste doppelt!« sagte er gemütlich zu dem Krieger. »Dann kannst du mal sehen, wie deine Bemalung wirkt. Noch zwei Minuten.« Er blickte auf das langsam sich entwickelnde Bild. »Es wird, mein Lieber, es wird hervorragend, der richtige Charakterkopf eines Kannibalen. Den kannst du dir über deiner Schlafstelle an die Wand nageln. Noch eine Minute … Du kommst, Junge, du kommst. Eine richtige Schönheit biste. Hier, jetzt sieh dich an.«
Er hielt Sap Tanana das fertige bunte Foto hin, und rumms, lag der Held des Stammes wieder auf dem Boden. Reißner war zufrieden, ging zu Dai Puino hinüber und hielt auch ihm das Foto vor die Augen.
Dai Puino reagierte völlig anders. Er starrte das Bild an, erkannte darauf Sap Tanana, lief sofort zu dem liegenden Krieger, drehte ihn auf den Rücken und sah, daß er noch sein Gesicht hatte. Um ganz sicher zu gehen, tastete er den Kopf des Erstarrten ab, stellte fest, daß alles noch vorhanden war, und schrie ihn an. Sap Tanana erhob sich taumelnd von der Erde.
Dai Puino kehrte zu seinem neuen Thron zurück, schob den Kopf vor und zeigte auf sein Gesicht.
Reißner verstand sofort. »Das ist ja nicht zu glauben!« rief er erstaunt. »Die gewöhnen sich schnell an einen Zauber. Jetzt will jeder ein Porträt, wetten?« Er fotografierte Dai Puino. »Jetzt kannst du sehen, wie du neu geboren wirst, Alterchen«, grinste er ihn an. »Paß genau auf. Aus dem Nichts tauchst du plötzlich in aller Buntheit auf. Das
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