Tal ohne Sonne
wenn das wahr ist, wenn das wirklich keine Sage ist, dann ist das eine Spur, eine ganz deutliche Spur … »Er hatte ein Loch im Kopf?« wiederholte sie.
»Ja, Massa, und war sofort tot. Aus dem Finger des Gottes traf ihn der Blitz. Sie haben es gesehen, die Patres nicht!« Samuel zog den Kopf zwischen die Schultern. »Was soll man glauben, Massa? Hier Gott und Jesus und Maria, dort der Donnergott mit dem Blitz in den Fingern.«
»Und jetzt hast du Angst, mit uns ins Hochland zu ziehen?«
»Samuel hat keine Angst.« Der Kleine reckte sich und drückte die Brust heraus. »Ich war ein großer Krieger, Massa. Ich bin es noch! Ich bleibe bei Ihnen.« Er tat, als sei er der mutigste Mensch der Welt, aber in seinen Augen lag deutlich die Angst. Ein Gott, aus dessen Fingern Blitze zucken, ist ein böser Gott. Man sollte ihn nicht reizen.
»Ich habe von Samuel etwas erfahren, was unserer Suche einen ganz neuen Weg vorzeichnet«, sagte Leonora am Abend, als man im Gästehaus nach dem Essen noch zusammensaß und australischen Wein trank. Nur Zynaker trank Whisky, pur, ohne Eis, und er schüttete ihn in sich hinein, als tränke er Limonade.
»In der Gegend, wo mein Vater verschollen ist, gibt es einen Gott, der Blitze aus seiner Hand schleudert.«
»Blödsinn!« sagte Pater Lucius sofort.
»Nichts Neues.« Kreijsman winkte ab. »Das tat der alte Göttervater der Griechen, der Halunke Zeus, auch.«
»Nur sind wir hier nicht in Griechenland, sondern in Papua.« Leonora blieb ernst. »Dieser Gott, so erzählt man sich, streckte einen Finger aus, und der Blitz traf einen Krieger mitten in die Stirn. Ein kleines rundes Loch.«
»Verdammt, das sieht ganz nach einem Schuß aus!« Reißner schlug erregt die Fäuste gegeneinander. »Einem Schuß aus einer Pistole oder einem Revolver. Wenn das wahr ist – Leute, da lebt einer im unerforschten Land mit einer Schußwaffe. Das ist ja eine Weltsensation! Das ist unglaublich!«
»Genau das habe ich auch gedacht. Dieser Blitz in die Stirn des Eingeborenen war ein Schuß. Wer ist das, der dort im unbekannten Urwald lebt? Woher stammt er, wie ist er in das ›Tal ohne Sonne‹ gekommen? Warum lebt er dort, und keiner weiß etwas von ihm?«
»Leonora, bitte«, Pater Lucius hob beschwörend beide Hände, »verrennen Sie sich nicht in den Gedanken: Das ist mein Vater! Das ist unmöglich.«
»Ich habe durch diese Erzählung der Duna-Leute eine ungeheure Hoffnung bekommen.«
»Leonora, sehen wir das doch ganz nüchtern!« Pater Lucius schüttelte den Kopf. »Wenn James Patrik wirklich überlebt hat, dann hätte er alles mobilisiert, um wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Zehn Jahre hätte er dazu Zeit gehabt. Glauben Sie nicht, daß ihn innerhalb von zehn Jahren ein Weg aus der Wildnis geführt hätte? Warum sollte Ihr Vater bei den noch unbekannten Menschen bleiben und einen Gott spielen? Das wäre doch irr! Und wenn man auf allen vieren kriechen müßte, innerhalb von zehn Jahren kommt man aus dem ›Tal ohne Sonne‹ heraus. Zehn Jahre! Da kann man auf dem Bauch rund um die Erde kriechen! Nein, Leonora, das sind Göttersagen der Wilden.«
»Aber den toten Krieger mit dem Loch in der Stirn hat es gegeben.«
»Wer sagt das?«
»Viele müssen ihn gesehen haben.«
»Wo sind sie? Denken Sie an die Nibelungen-Sage. Siegfried, der den Drachen erschlägt. Sogar den Ort will man kennen: den Drachenfels im Siebengebirge am Rhein, schräg gegenüber von Bonn. Man will sogar wissen, wo Siegfried geboren ist: in Xanten am Niederrhein. Aber was ist die Wirklichkeit? Alles ist nur eine Sage, die man zur Wahrheit gemacht hat. Und jetzt stellen Sie sich diese Urmenschen vor, die nie aus ihrem Urwald herausgekommen sind, deren Welt vielleicht drei Täler weiter aufhört. Für das, was um sie herum geschieht, für Donner, Blitz, Regen, Sonnenglut, Feuer, Erdbeben und Überschwemmungen, müssen sie eine Erklärung finden. Und diese Erklärung lautet wie bei allen Urvölkern: Es sind die guten und die bösen Götter. Die Geister, die die Welt regieren. So werden aus Mythen, wenn sie über Jahrhunderte erzählt werden, Tatsachen.«
»Immerhin wissen wir jetzt eins: In den unerforschten Gebieten leben wirklich Menschen. Wenigstens etwas.«
»Das ahnte man schon immer, nur hat sie bisher keiner zu Gesicht bekommen. Und wer nach ihnen gesucht hat, ist nie wieder zurückgekommen.«
»Wir werden sie sehen und wieder zurückkommen!« sagte Leonora fest. »Und eines ist mir jetzt sicher: Wir
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