Tal ohne Sonne
kurzem abgehauen worden sein, Hautfetzen klebten noch an den Gliedern.
Wieder versorgte Schmitz die Wunde, reinigte sie, nähte und verband sie, injizierte Tetanus und Antibiotika, Kreislaufmittel und schmerzstillende Mittel. Er tat dies neunmal hintereinander, neunmal an regungslosen, fieberglühenden Körpern, neunmal an Menschen, die schon an der Schwelle des Todes standen.
Nach vier Stunden war die Arbeit getan. Das Licht der Taschenlampe war deutlich schwächer geworden, die Batterie war bald leer. Schmitz richtete sich auf, seufzte leise und reckte sich, als er stand. Es war ihm, als knackte das stundenlang gekrümmte Rückgrat wieder in seine normale Haltung.
Hinter ihnen, stumm, wie geschnitzt, stand der Papua-Krieger mit großen, wachen Augen.
Schmitz nickte ihm zu. »Samuel, sag ihm, daß die Verwundeten vielleicht nicht sterben werden. Ich komme morgen nach dem Mittagessen wieder vorbei.«
»Und wenn doch einer stirbt, Masta?«
»Ich glaube nicht. Diese Körper sind medikamentös noch nicht verdorben, sie reagieren besser als unsere Körper, die oft mit Drogen vollgepumpt sind. Ich hoffe, daß das Fieber morgen schon gesunken ist – das wäre ein erster Schritt zur Heilung. Los, übersetz ihm das: Sie werden nicht sterben, ich komme morgen wieder.«
Samuel sprach auf den regungslosen Krieger ein. Eine Antwort bekam er nicht.
»Wir gehen jetzt, Samuel«, sagte Schmitz gepreßt. »Wenn er uns fort läßt, wenn wir die Tür erreichen, haben wir gewonnen. Ganz ruhig, Samuel. Wir haben ihm einen Zauber vorgemacht, er weiß, seine Freunde werden überleben … Du hast dich tapfer gehalten, Samuel.«
»Danke, Masta.«
Schmitz nickte dem Krieger noch einmal zu und ging voraus, Samuel folgte ihm wieder auf Tuchfühlung. Im schwankenden, nun schwachen Schein der Lampe sahen sie wieder die an der Wand vor ihren Kopfkissen aus Totenköpfen hockenden Papuas, die sie mit ihren schwarzen Augen anstarrten. Als sich Schmitz kurz umblickte, sah er, wie ihnen der große Krieger folgte, lautlos, als schwebe er über den Fußboden.
Noch drei Meter bis zur Tür, noch zwei, noch einen – stieß er jetzt mit dem Speer zu? Das Türloch. Endlich, endlich der erste Hauch von frischer Luft nach dieser schweren Wolke aus Verwesungsgeruch und Schweiß! Luft, herrliche, klare Luft, man möchte die Arme ausbreiten und die Lungen blähen …
Und dann standen sie draußen, gingen die Bambusstufen hinunter, standen auf dem Boden, und als Samuel sich umdrehte und den Eingang anleuchtete, war er leer. Sie waren allein und lebten.
»Ich werde bei Masta Pater ein Gebet sprechen«, stotterte Samuel. »Masta Pepau, hat uns Gott beschützt?«
»Ich glaube, ja. So genau weiß man das nicht. Ich weiß nur eins: Diese Nacht hat uns ein gutes Stück weitergebracht.«
Im Männerhaus zwei war Zynaker noch wach und richtete sich in seinem Schlafsack auf, als Schmitz und Samuel zurückkamen. »Gott sei Dank, ihr seid da!« sagte er, von einer großen Sorge befreit. »Wie war's?«
»Neun Schwerverwundete.« Schmitz warf sich auf sein Lager und streckte Arme und Beine von sich. Es schien ihm, als hätte man ihm alle Knochen gebrochen. »Morgen mehr, Donald. Ich bin müde, ich kann kaum noch sprechen …«
Minuten später schlief er ein, und Zynaker knipste die kleine Lampe aus.
Im Frauenhaus, ungefähr sechs Meter über der Erde, saß Leonora auf den bemalten Flechtmatten, den Rücken an die Holzwand gelehnt, in völliger Dunkelheit und konnte nicht einschlafen. In den drei anderen abgeteilten Räumen hörte sie die Frauen leise tuscheln und lachen, ein Säugling begann zu greinen, verstummte aber schnell – sicherlich hatte die Mutter ihn an ihre Brust gedrückt und säugte ihn.
Der vergangene Tag zog noch einmal in ihrem Gedächtnis vorbei. Ein schwerer, ein mühsamer Tag, aber auch ein Tag des ungeahnten Erfolges. Morgen würde das große Fest der Uma stattfinden, der Austausch der Geschenke, die Schließung der Freundschaft mit Dai Puino, aber auch der erste Zusammenstoß mit Hano Sepikula, dem feindlichen Bruder, und Duka Hamann, dem Medizinmann, der um seine Ehre kämpfen würde. Vor allem aber würde sie versuchen, etwas über James Patrik zu erfahren. In dieser Gegend, in diesem Tal, das er nach dem Überfliegen das ›Tal ohne Sonne‹ getauft hatte, mußte er verschwunden sein, und wenn ein Weißer, vor zehn Jahren ein noch fernerer Gott als heute, hier im Urwald mit den Wilden in Berührung gekommen war, dann war es
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