Tal ohne Sonne
umgab sie. Kein Feuer vor den Hütten, kein Lichtschimmer aus den Hütten. Im Wind, der die Berghänge herunterkam, klapperten die Knochen an den Girlanden. Selbst Hunde streunten nicht herum oder bellten oder winselten, die freilaufenden Schweine hatten sich verkrochen, die Hühner saßen in ihren niedrigen Krüppelholzställen. Selbst ein Kindergreinen hörte man nicht, obwohl es genug Säuglinge im Dorf gab. Es war, als sei die Nacht ein dickes schweres Tuch, das alles zudeckte.
Im zitternden Schein der Taschenlampe gingen Schmitz und Samuel, letzterer immer drei Schritte zurück, zum Männerhaus eins. An der vorderen Tür stand keine Wache – wozu auch? Die Nacht war Geheimnis und Schutz zugleich, sie war der Spielplatz der bösen Geister. Vor Menschen war man also sicher.
Schmitz leuchtete die Stufen aus behauenen Baumstämmen ab, ehe er zum Türloch hinaufstieg. Samuel blieb unten stehen und zitterte am ganzen Körper.
»Komm, du Feigling!« zischte Schmitz.
»Sie schlafen neben ihren Speeren, Masta«, flüsterte Samuel zurück.
Schmitz wandte sich ab und betrat den langen Saal. Der Strahl seiner Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit. Es war der gefährlichste Augenblick. Wenn jetzt die Speere flogen, gab es kein Entkommen mehr. In Sekundenschnelle ging sein Leben zu Ende.
Nichts rührte sich. Kein Laut, kein Rascheln, kein Atmen. Nur der Gestank von Schweiß und fauligem Fleisch schlug Schmitz entgegen, und ihm wurde einen Augenblick übel. Als er den Schein der Taschenlampe zu der Längswand wandern ließ, sah er, daß die Krieger nicht mehr lagen, sondern sich lautlos zum Sitzen erhoben hatten. Aber er sah auch eine Reihe von glänzend polierten, elfenbeinfarbigen Totenschädeln, und sie lagen nicht auf einem Bord an der Wand, sondern auf dem Boden der Schlafstellen, blank gescheuert vom täglichen Gebrauch. Die Krieger schliefen auf diesen schaudererregenden Schmuckstücken, benutzten sie als Kopfkissen, betteten ihr Haupt auf den Schädel ihres Vaters oder Großvaters und gaben sich damit in den Schutz der Ahnengeister. Ein Ahnenschädel ist das beste Abwehrmittel gegen feindliche Mächte, er hilft gegen Krankheiten, verjagt böse Geister, gibt Kraft zum Kampf gegen die Feinde und ist ein Trost im Sterben. Auch dein Schädel wird einmal hier liegen, und dein Sohn wird auf ihm schlafen. Du bist nicht tot, du hast dich nur verwandelt. Du bist immer bei deinem Stamm, deiner Familie. Ein Weiterleben nach dem Tode, das Pater Lucius ihnen predigen wollte, war nichts Neues für sie. Es gehörte bereits zu ihrem Leben.
Unter dem spitzen Dach hingen aus Binsen geflochtene Sagosäckchen mit den wimmelnden, glitschigen, ekligen Larven, ein paar Holzgeräte zum Sagoklopfen standen an der Wand, in einigen Winkeln des Daches staken schwarzgeräucherte Schädel, Überbleibsel des letzten Überfalls der Pogwa, und über allem lag der widerliche, ätzende Gestank, eine Mischung aus ranzigem Fett, Leichengeruch und Schweiß.
Schmitz ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe weiterwandern und kam dabei tiefer in den Raum. Samuel folgte ihm jetzt auf Tuchfühlung, als wolle er in Schmitz hineinkriechen.
»Dieser Leichengeruch –«, flüsterte Schmitz. »Verwahren sie hier auch ihre Leichen, bevor sie verwest sind?«
»Nein, Masta.« Samuels Stimme war kaum hörbar. »Sieh auf die linke Seite des Hauses.«
Schmitz schwenkte zur Seite. Sein Atem stockte, als er erkannte, woher der Leichengeruch kam. Über die ganze Hauslänge war eine Rotang-Leine gespannt, an der in ununterbrochener Reihenfolge Tausende von Knochen hingen. Alte, gebleichte Knochen und neue Knochen, an denen noch die verfaulenden Fleischreste hingen. Drei Reihen nebeneinander, so lang, wie das Haus war, Knochen aller möglichen Herkunft, planlos durcheinander aufgezogen, eine Galerie des Grauens: Schweinsköpfe, Schildkrötenrücken, Menschenschenkel, Totenschädel, Menschenkiefer, Kasuarknochen, Fischgerippe, Fingerknochen, Nackenwirbel, zu Büschel gebundene Vogelfedern und ein ganzer Strang von Rückenwirbeln. Die schwarzen Stellen auf den weißen Knochen bewiesen, woher der infernalische Gestank kam: von den schlecht abgenagten, verwesenden Fleischresten, die noch an den Knochen klebten.
Schmitz hatte das Gefühl, sein Hals sei plötzlich verätzt. Er leuchtete weiter die Wand ab und ließ den Strahl auf einer Anhäufung von kleinen, an Binsen hängenden Säckchen stehen, Säckchen, die feucht und klebrig schienen.
Samuel drückte sich
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