Tal ohne Sonne
Dunkelheit starrte, um so mehr löste sich die völlige Finsternis auf.
Erschrocken fuhr sie zusammen, als von einem Männerhaus ein schmaler, schwankender Lichtschein sich wegbewegte und dann wieder erlosch. Ihr Verlangen nach Donald wurde so stark, so brennend, daß sie vorsichtig die Leiter hinunterkletterte, sich an die Fundamentstangen des Frauenhauses lehnte und zu den wie schlafende Ungeheuer aussehenden Männerhäusern hinüberblickte.
Wenn er meine Sehnsucht spürt, wird er gleich aus dem Haus kommen, dachte sie und ging ein paar Schritte ihrer Hoffnung entgegen. Er muß es spüren, diese Liebe ist so stark, daß es keine Entfernungen gibt, keine Hindernisse, kein Anhalten. Auf seiner Haut muß er spüren, daß ich an ihn denke, daß ich hier im Dunkeln stehe und auf ihn warte, in seinem Inneren muß meine Sehnsucht brennen und ihn heraustreiben zu mir. Komm, komm, ich rufe dich, ich kann ohne dich nicht mehr sein …
Wie lange sie in der Nacht stand, hin und her ging, sich wieder an die Pfähle des Frauenhauses lehnte und bettelte: »Komm heraus, komm, komm!« – sie wußte es nicht. Es gab keinen Zeitbegriff mehr, nur das immerwährende, innere Zittern nach seiner Umarmung.
Sie sah, wie der dünne Lichtstrahl zurückkehrte und im mittleren Männerhaus verschwand, ohne zu ahnen, daß es Schmitz und Samuel waren, die von den Verwundeten zurückkamen. Sie rutschte an dem Pfahl hinunter und setzte sich auf die Erde, zog die Knie an und stützte das Kinn darauf, und sie dachte: Warum spürt er es nicht? Wieso kann er jetzt schlafen? Warum sind unsere Sehnsüchte nicht wie Strahlen, die aufeinander zufliegen und verschmelzen? Komm, komm …
Sie schrak auf und merkte, daß sie im Sitzen eingeschlafen war. Ganz deutlich war ein Knirschen zu hören, jemand ging in der Dunkelheit herum, und es war das Knirschen einer Schuhsohle auf trockenem Boden. Die Wilden aber liefen barfuß und damit lautlos.
Sie schob sich an dem Pfahl empor und umklammerte ihn. Noch sah sie nichts, sie hörte nur, wie die Schritte vom Männerhaus kamen. Ein Glücksgefühl überwältigte sie plötzlich, eine Gewißheit, obwohl sie keinen Schatten sah. »Donald«, rief sie leise, »Donald!«
»Mein Engelchen!«
Seine Stimme … Und da tauchte auch sein Schatten auf, kam näher, verdichtete sich, nahm Gestalt an, wurde sein Gesicht, seine vorgestreckten Hände, sein Atem, seine Arme, die sich um sie schlangen, sein Mund, seine Lippen, seine Augen, sein Körper …
Sie küßten sich, als müsse jeder dem anderen neues Leben einhauchen, stumm, vibrierend, unendlich das Verschmelzen der Lippen, ein Brand, den das Blut in jede Ader, jeden Nerv trug, ein Glücksgefühl, dem alles Irdische entglitt.
»Mein Engel«, sagte er wieder und küßte ihre Augen, ihre Nase, ihre Stirn, ihr Ohr und ihre Halsbeuge, daß ihr der Atem stockte und dann wiederkam in einem hellen Seufzen. »Mein Engel, ich habe gespürt, daß du hier draußen bist.«
»Ich habe dich gerufen.«
»Es war, als zöge mich jemand mit Gewalt aus dem Haus. Ich konnte nicht anders, ich mußte hinausgehen.«
»Ich habe dich gerufen«, sagte sie noch einmal. »Ich wußte, daß du mich hörst. O mein Liebster, ich ersticke vor Sehnsucht …«
Bis der Himmel sich hellgrau färbte und die lichter werdende Nacht den neuen Tag ankündigte, blieben sie zusammen. Sie lagen auf einem Haufen getrockneter Palmblätter, die man zum Dachdecken verwenden wollte, neben einem Hühnerstall und vergaßen in der Umarmung, wo sie waren.
Erst als die Morgendämmerung das Dorf deutlich aus der Finsternis hob und neben ihnen ein Hahn aus dem Stall hüpfte und zu krähen begann, fanden sie zurück in diese Welt, küßten sich noch einmal und erhoben sich dann von den Palmblättern.
Vom Männerhaus eins erklang ein Hornruf, dumpf, langgezogen, befehlend. Zynaker hatte Leonora an der Hand gefaßt und stand mit ihr unter den Pfählen ihres Frauenhauses. Von oben auf der Plattform hörte man lautes Schwatzen, dann kamen die Frauen mit den älteren Kindern ins Freie, kletterten die Leiter herunter und riefen Leonora und Zynaker freundliche Worte zu. Überall regte es sich jetzt, der Dorfplatz belebte sich, an langen, ausgehöhlten Baumstämmen wuschen sich Frauen und Kinder in dem Wasser, das vom Berghang herabgeleitet wurde. Aus dem Männerhaus eins und drei quollen jetzt auch die Krieger, Rauch stieg durch die Ritzen der Dächer und Wände, die Feuerstellen waren entzündet, nicht zum Kochen, sondern
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