Talivan (German Edition)
Hilfe kommen. Selbst wenn sie den Männern der Stadtwache ü ber den Weg gelaufen wären, hätten einige Worte von ihm genügt. Die ungehorsame Tochter, eine von Dämonen b e sessene Verwandte – solche Erklärungen wurden immer gerne geglaubt, solange sich dadurch ein Eingreifen ve r meiden ließ. Vielleicht hätte es an anderen Orten anders ausgesehen, aber in dem flussabwärts g e legenen Viertel Alkyons kümmerte sich niemand um die Menschen, an d e nen er auf der Straße vorüberlief.
„Bist du gläubig?“, fragte er keuchend. Die wütenden, raschen Schritte, das grobe Weite r ziehen der Kleinen hatten ihn mehr angestrengt als erwartet.
Die Kleine schien ihn nicht zu verstehen. „Was meinst du?“ Noch immer wehrte sie sich gegen seine Hände, o b wohl sie inzwischen offenbar ei n gesehen hatte, dass sie keine Chance hatte.
„Ich meine, glaubst du an Ylcar?“ Der Tempel des Gottes ragte vor ihnen auf, nur als Schatten vor der unte r gehenden Sonne zu erkennen.
Sie antwortete nicht. Wortlos zog er sie weiter, schob sie durch das offene Tor in den Tempel und dort an der Rüc k wand einige Meter zur Seite, wo es dunkler war und das strahlende Licht auf der Stirnseite des Tempels, gleich oberhalb des weißblauen Stein-Altars, umso besser zu e r kennen.
„Ich frage dich noch einmal“, er störte sich nicht daran, dass mehrere der Gläubigen sich umdrehten, solange sie sein Gesicht im Halbdunkel des Tempels nicht erkennen konnten, „hier, an diesem heiligen Ort, willst du in Ylcars Haus b e haupten, du wüsstest nicht …“
Sie sackte in seinen Armen zusammen. Das leise Stöhnen nahm er erst wahr, als er schon eine Silhouette in Richtung Eingang davonhüpfen sah und glänzendes Metall auf den Steinboden au f schlagen hörte. „Bei Vardan“, murmelte er und ließ die schlaffe Gestalt des Mädchens zu Boden sinken. „Kümmert euch um sie!“, rief er noch, obwohl er ah n te, dass es zu spät war, griff das Messer vom Boden und rannte dem anderen hinterher.
Der Platz vor dem Tempel war groß und nahezu leer, und wider Erwarten entdeckte er die mit flinken Sprüngen fliehende Gestalt sofort, als er sich umsah. Der andere ve r ließ gerade den Schatten des Tempels, und die unte r gehende Sonne glänzte auf seinem bloßen Rücken.
Daron rannte los, doch der Mörder vergrößerte den Vo r sprung noch. Der Leibwächter war nie ein guter Läufer gewesen. Er wusste, dass er den anderen im Gewirr der Gäs s chen ringsum niemals finden würde, dennoch weigerte er sich aufzugeben. Sobald der andere am Rand des Pla t zes angelangt war, wurde er sofort von den schmalen, dunklen Gassen verschluckt. Daron hatte das Gefühl, i m mer schwerfälliger zu laufen; nur quälend langsam kamen die ersten kleinen Hütten und Verkaufsstände näher. Als er endlich den Marktplatz verließ und in das Labyrinth aus verwinkelten Pfaden zwischen halbverfallenen Woh n häusern eintauchte, hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen. Daron suchte die Gassen ab, bis die Öllichter a n gezündet wurden, obwohl er nicht einmal wusste, wonach er eigen t lich suchte.
Was hatte er gesehen? Einen schlanken Mann mit nacktem Oberkörper und bloßen Füßen, der die Haare kurz oder z u sammengesteckt trug. Die B e schreibung traf auf jeden Zweiten zu, der in dieser Gegend lebte. In der Nähe des Flusshafens begegnete man auf Schritt und Tritt Flus s schiffern, die selten mehr als eine halblange Hose und eine off e ne Jacke trugen.
Vielleicht waren im Tempel Spuren zu finden, mögliche r weise hatten auch die betenden Menschen etwas g e sehen. Noch wollte Daron nicht glauben, dass es keinen Hinweis gab, wer seinen Herrn verschleppt und das Mädchen e r mordet hatte. Der Weg über den Vorplatz zum Tempel e r schien ihm nun kürzer als zuvor; er wunderte sich erst, dass keine Männer von der Stadtwache vor dem Tempel zu s e hen waren, als er den Bau schon betreten hatte.
Auch im Innern des Tempels deutete nichts darauf hin, dass hier erst kurz zuvor ein Mensch gestorben war. Er suchte die Stelle, an der das Mädchen zu Boden gesunken war, doch die blanken Steine unter seinen Füßen wiesen keine Spuren von Blut auf. Wie hatten alle Zeichen des Mordes so schnell ve r schwinden können?
„Was ist mit dem Mädchen geschehen?“, fragte er eine der Gläubigen, die er wiederzuerkennen glaubte.
Die Frau schüttelte verwirrt den Kopf.
„Das Mädchen, das vor einer halben Stunde hier niede r gestochen wurde!“, erklärte er
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