Talivan (German Edition)
Frucht des Muarte-Baumes
Nicht zum ersten Mal studierte Estven die langen Zahle n reihen, die ihm mit jeder neuen Ziffer, am Ende eines jeden weiteren Tages mehr Sorgen bereiteten. Seit sein Vater im vergangenen Jahr unerwartet und viel zu früh verstorben war, hatte er sich um das G e schäft kümmern müssen, doch der Handel lag ihm weit weniger, als er erwartet hätte. B e sonders in den letzten Wochen und Monaten schien sich das Schicksal gegen ihn gewandt zu haben.
Manchmal empfand er es fast als tröstlich, dass seine Mu t ter schon seit mehreren Jahren nicht mehr lebte und seine beiden älteren Schwestern längst verheiratet waren. So musste Estven sich wenigstens keine zusätzlichen Sorgen um die E r nährung seiner Familie machen.
Seine Eltern waren nicht reich gewesen, doch die ständigen Sorgen, ob er am nächsten Tag genug Geld zum Essen h a ben würde, hatte er früher nicht gekannt. In letzter Zeit träumte er oft davon, sich nie wieder Gedanken darum m a chen zu müssen. Nichts wünschte er sich mehr.
„So einfach ist das nicht“, sagte eine leise Stimme.
Estven schrak hoch. Ihm gegenüber saß eine sehr große, schlanke Frau mit blonden Locken, die im Licht der fl a ckernden Kerze golden funkelten.
„Du bist eine Fee!“, entgegnete er erschrocken. „Wie kommst du hierher? Und weshalb?“
„Weil du dir sicher warst, nur einen einzigen Wunsch zu haben“, sagte die Fee.
„Und diesen willst du mir erfüllen?“, fragte Estven au f geregt. „Und du bist dir sicher, dass es nur ein ei n ziger Wunsch …“
Seufzend winkte die Fee ab. „Drei Wünsche sind nun wir k lich ein wenig übertrieben. Genau genommen werde ich dir keinen einzigen Wunsch erfüllen. Stattdessen“, mit einer fließenden Bewegung nahm sie etwas Grünes, Rundes aus der Tasche ihres Mantels und warf es spielerisch in die Luft, „stattdessen werde ich dir etwas schenken …“ G e schickt fing sie das runde Ding wieder auf und legte es vor Estven auf den Tisch.
„Die Frucht des Muarte-Baumes“, fuhr sie fort, „kann dir geben, was dir am meisten fehlt, was du am dringendsten benötigst. Solange es dir an etwas mangelt, wird sie dir nichts weniger Wichtiges geben, was auch immer du dir wünschen magst. Also überlege gut, wann du sie benutzt.“
Vorsichtig nahm Estven die Frucht in die Hand. Sie fühlte sich sehr kühl und glatt an, ohne jeden Makel. Und obwohl grüne Früchte gewöhnlich unreif waren, wusste er, dass diese hier anders war. Bestimmt war sie köstlicher als alles, was er jemals gegessen hatte.
Als er wieder aufsah, war die Fee verschwunden. Estven hielt die Frucht mit beiden Händen u m schlossen. Solange er sie spürte, konnte er glauben, dass ihm gerade ta t sächlich eine Fee einen Wunsch – oder wenigstens etwas Ähnliches – g e stattet hatte.
Eigentlich gab es keinen Grund, nicht sofort in die Frucht hineinzubeißen. Dennoch zögerte er. Was, wenn diese Frucht nun annahm, sein größter Wunsch sei nicht eine Z u kunft ohne finanzielle Sorgen, sondern eine eigene Familie? Denn die meisten anderen Männer in seinem Alter w a ren bereits verheiratet oder wenigstens versprochen. Doch im vergangenen Jahr hatte er zu viele andere Sorgen g e habt, um sich darum Gedanken zu machen.
Fast die ganze Nacht hindurch grübelte er, dann glaubte er die Lösung gefunden zu haben. Seine g e schäftlichen Schwierigkeiten erschienen ihm um so vieles größer als die Ängste der jungen Männer, die das Herz eines Mädchens zu gewinnen suchten, dass er überzeugt war, leicht eine Frau finden zu können, wenn er sich nur ein wenig Mühe gab. Erst in diesem Moment fiel ihm Birka wieder ein, die immer so leichtfüßig den Eselskarren ihres Vaters führte und deren Haar manchmal vom Wind aus dem Knoten im Nacken gezupft wurde. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt, sich auch danach fast jeden Tag gesehen, doch im letzten Jahr hatte Estven kaum Zeit gehabt, an sie zu de n ken. Jetzt aber fühlte sich die Vorstellung richtig an, sein weiteres Leben mit ihr zu verbringen.
Früher hätte er es niemals gewagt, Birka einen Antrag zu machen. Doch nun, mit der Frucht in der Tasche und den Worten der Fee noch in den Ohren, war Estven sich sicher, dass alles gut werden würde. Er stotterte ein wenig, als er Birka sagte, dass er ihren Vater um ihre Hand bitten wolle, doch an ihrem Lächeln sah er, dass das überhaupt nichts ausmachte. Noch bevor er ihr, wie er es geplant hatte, von einer ausstehenden Erbschaft
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