Talivan (German Edition)
ungeduldig.
„Meint ihr das ohnmächtige Mädchen?“, mischte sich eine andere ein. „Sie hat sich glücklicherweise rasch wieder e r holt. Weshalb fragt ihr?“
„Nein, versteht doch, das tote Mädchen“, murmelte er. I r gendetwas lief hier schrecklich falsch. Das Messer! Er hatte es bisher völlig vergessen. Nun zog er die Waffe aus der Rocktasche, in die er das Messer achtlos g e steckt hatte, und drehte es im Schein der Kerzen. Die beiden Gläubigen z o gen sich rasch zurück, doch darauf achtete Daron nicht. Die Klinge des unve r zierten Messers blitzte in dem flackernden Licht, das die Scharten deutlich hervorhob. Wo war das Blut, in das die Klinge hätte getaucht sein müssen? Geda n kenverloren drückte er mit dem Daumen gegen die Spitze. Fast geräuschlos schob sich die Klinge in den Griff, ohne seine Haut zu verletzen. Er fröstelte, als er zu b e greifen b e gann.
Und dann dieser flinke Mann, der ihm entkommen war … Kein Attentäter, der auf ewig unerkannt bleiben sollte. Der vorgebliche Mörder war völlig ungeschützt gewesen, der Angriff sicher unvorbereitet. Weshalb war er mitten über den Tempelvorplatz geflohen, anstatt sofort auf der Rüc k seite des Tempels in Richtung des Flusshafens zu ve r schwinden?
Was musste man einem der Männer, der inmitten dieser reichen Stadt in Armut lebte, einem Bettler vielleicht oder einem Flussschiffer ohne Heuer, wohl bieten, um ihn zu solch einem gefährlichen Schauspiel zu überreden? Welche Rolle spielte das Mädchen? Und wer war noch an diesem bösen Spiel beteiligt?
Erst jetzt begann er zu überlegen, was die En t führer wohl von Marviolo wollten. Den Ort, an dem er die Schlüssel zu seiner Truhe mit Geldbriefen und Edelsteinen versteckt ha t te? Oder ging es um etwas ganz anderes?
Daron brauchte nicht lange, um Marviolos Villa in der O berstadt zu erreichen, doch er kam wieder zu spät. Die komplizierten Schlösser an der Truhe waren g e öffnet, der Inhalt verschwunden. Daron hatte gehofft, dass sein Herr eine Zeitlang schweigen würde, doch eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Die En t führer hatten Marviolo wohl nur ein Messer an den Hals halten müssen, um ihn zum Sprechen zu bringen. Für den Kaufmann mochten seine Schätze das Wichtigste im Leben sein, wichtiger als Frau und Kind es jemals hatten sein können – doch die Angst vor Schmerzen hatte seinen Mund sicherlich in Sekunden g e öffnet.
Wenn Daron später an diesen Tag zurückdachte, hatte er das Gefühl, bei all diesen Vorgängen immer nur ein u n beteiligter Zuschauer gewesen zu sein, der eben so viel erfa h ren hatte, wie seine Gegner erlaubten. Er glaubte keinen Moment daran, dass Marviolos En t führung ein gutes Ende finden könnte, und so wunderte es ihn nicht, als die Leiche des Kaufmannes wenige Tage später aus dem Flussarm g e fischt wurde, der die Stadt flussabwärts begrenzte. Er selbst sah den toten Körper nicht, doch die Hafenarbeiter, die ihn gefunden hatten, sprachen von unzähligen Verletzungen und dem Hass, der dazu nötig gewesen sein musste.
Daron behielt das Messer. Er ließ sich eine Messe r scheide neben die für sein Kurzschwert an den Waffengurt nähen, in der er es stets bei sich trug. Vielleicht würde es ihm i r gendwann nützlich sein, und es erinnerte ihn immer daran, dass die Wirklichkeit manchmal anders war, als sie zu sein schien.
Es dauerte nicht lange, bis er eine neue Anstellung als Leibwächter fand. Niemand schien ihn mit Marviolos En t führung zu verbinden, und Daron hütete sich, diese G e schichte jemals zu erwähnen.
Er sah das Mädchen noch einmal, gleich neben Elysada con Fren, der inzwischen nach Alkyon zurüc k gekehrten Witwe Marviolos, auf einem stolzen Pferd umgeben von Dienern und Leibwächtern. Zuerst e r kannte er die junge Frau nicht, doch als ihr hochmütiger Blick über dem goldverzierten Fächer über die Menschen am Straßenrand glitt und auf Daron hänge n blieb, ahnte er, was ihn mit ihr verband.
Sie hätte den Fächer mit dem Wappen der Familie con Fren nicht senken müssen, und er wäre sich nie sicher g e wesen, ob sie es wirklich war. Aber dann hätte sie ihm nicht dieses spöttische, übe r legene Lächeln schenken können, das sich tiefer in sein Herz brannte als die Schmach, den Tod seines Herrn nicht verhindert zu haben.
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Die Welt Talastan, in der diese Geschichte spielt, wurde von der Autorin und Zeichnerin Christel Scheja entwickelt .
Die
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