Talk Talk
an den Knöpfen der Klimaanlage und versuchte, ihr ein, zwei Grad Kühlung zu entlocken – wollte sie sich auf anderes konzentrieren. Zum Beispiel auf ihr Buch. Der Laptop stand aufgeklappt vor ihr und zeigte ihr die Worte, die sie aus ihrem Innern ans Licht gezerrt hatte, die betrügerischen Worte, das langsame, lautlose Mittel, mit dem sie ihr eigenes unsicheres Ich neu erschuf, nach dem Bilde Victors, nach dem Bilde Itards – doch es waren alte Worte, die strauchelten und Dinge verschwiegen und wie Todfeinde übereinander herfielen, bis sie ihren Anblick nicht mehr ertrug. » Wildes Kind «, sagte sie laut, nur um die Schwingungen auf den Lippen zu spüren. » Wildes Kind von Dana Halter«, sagte sie, als wäre es eine Beschwörung. Sie wiederholte es immer wieder, aber es hatte keinen Zweck. Denn in ihrem Kopf widersprach eine tiefe, rauhe Stimme: Peck Wilson, Peck Wilson, Peck Wilson .
Es war der alte Trick: Sie spürte, daß hinter ihr die Tür geöffnet wurde, drehte sich um und sah Bridger und ihre Mutter in der Tür stehen. Sie machten betretene Gesichter. Dürfen wir reinkommen? gebärdete ihre Mutter unbeholfen.
»Ja, klar«, antwortete sie und winkte sie mit großer Geste herein. Sie spürte den raschen, scharfen Stich der Verlegenheit. Hatten die beiden sie gehört? Hatten sie geklopft? Hatten sie gehört, wie sie den Titel des Buchs vor sich hin gesagt hatte? Und ihren eigenen Namen? Hatte sie laut »Peck Wilson« gesagt?
Beinahe fertig? gebärdete Bridger. Sein Gesicht war weich und offen, und sie hätte diesen Ausdruck als liebevoll und unterstützend interpretieren können, ließ sich aber nicht täuschen. Es war ein schuldbewußter, mit Sorge unterlegter Gesichtsausdruck, der zu dem ihrer Mutter paßte. Sie hatten sie gehört. Ein irrationaler Zorn wallte in ihr auf: ihr eigener Freund, ihre eigene Mutter.
»Ja«, sagte sie. »Oder vielmehr: nein, eigentlich nicht. Ich komme nicht voran. Meine Räder drehen durch.« War das ein Ausdruck aus der Welt des Rennsports? Oder sagte man das, wenn man in Schnee oder Matsch festsaß? »Warum? Was habt ihr vor?«
Unter anderen Umständen hätte Dana sich darüber gefreut, wie ihre Mutter Bridger ins Herz geschlossen hatte. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihm jede Touristenattraktion der Stadt zu zeigen, von der Freiheitsstatue über das MOMA und das American Indian Museum bis hin zu Ground Zero und Grants Grabmal. Sie hatte mit ihm sogar die Circle Line Tour durch die Battery und am East River hinauf gemacht, durch die belebten Straßen von Spuyten Duyvil und dann am Hudson entlang wieder hinunter zur West Side, während Dana – angeblich – arbeitete. Das Lächeln ihrer Mutter war so angespannt, daß es fast ihr Gesicht zerriß. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wir haben gedacht, vielleicht gehen wir drei mal in eine Nachmittagsvorstellung. Irgendwas Leichtes – vielleicht ein Musical. Bridger hat noch nie eine Broadway-Show gesehen, und es wäre doch eine Schande, wenn er –«
»Wir müssen aber nicht gehen«, sagte er mit hängenden Schultern und erstarrtem Lächeln, und natürlich meinte er, daß er es nie verwinden würde, wenn sie nicht gingen. »Kommst du damit klar?«
»Wie meinst du das – komme ich damit klar? Es geht doch nicht um eine Wiederaufführung von Gottes vergessene Kinder , oder?«
Die beiden lachten, aber es war ein gezwungenes Lachen, das merkte sie daran, daß sie einander mit großen Augen ansahen wie diese küssenden Fische im Aquarium. »Wir hatten an Der König der Löwen gedacht«, sagte Bridger. »Oder Rent , wenn wir Karten dafür kriegen.«
»Und Equus ?« sagte sie. »Was ist mit Equus ?« Sie war grausam, aber sie konnte nicht anders. Sie dachte an das erste Mal, daß sie eine Aufführung des Nationalen Gehörlosentheaters gesehen hatte. Das war im ersten Studienjahr in Gallaudet gewesen, in dem Jahr, in dem die Deaf-Power-Bewegung wirklich in Schwung kam und auch die Uni erfaßte. Zum erstenmal in der Geschichte von Gallaudet, zum erstenmal seit der Gründung der Universität im Jahr 1864 war ein gehörloser Präsident ernannt worden. Die gesamte Studentenschaft war auf die Straße gegangen, nachdem wieder einmal ein Hörender an die Spitze der Universität gesetzt worden war. Sie waren eine Woche lang täglich durch die Straßen gezogen und hatten gerufen: »Schluß mit der Bevormundung!« – »Wir sind keine Kinder!« – »Keine Daddys mehr, keine Mommys!« Der Wind hatte in den Augen gebrannt.
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