Talk Talk
Polizisten saßen auf lautlosen, erschauernden Pferden. Sie hatte sich noch nie im Leben so mitgerissen, so leidenschaftlich gefühlt. Und als sich in der letzten Nacht, der Nacht ihres Triumphs, der Vorhang öffnete, war das Theater bis auf den letzten Platz gefüllt, und sie mußte auf dem Boden sitzen. Alle waren so gespannt. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, daß es sich nicht um ein Repertoirestück handelte. Es war nicht Der Tod des Handlungsreisenden oder Die Glasmenagerie in einer Bearbeitung für Gehörlose, sondern ein nagelneues Stück, in Auftrag gegeben und geschrieben in ihrer Sprache, der Sprache ihres neuen Universitätspräsidenten. Sie wechselte einen Blick mit ihrer Nachbarin, ihrer Zimmergenossin Sarah, die gleich wieder auf die Bühne sah, die Hände reglos im Schoß, und dann atmete sie tief durch.
Und jetzt wollten sie, daß sie Der König der Löwen über sich ergehen ließ?
»Nein«, sagte sie, »ich glaube, ich bleibe lieber hier und bringe mich um.«
»Na komm schon«, sagte Bridger, und als er ihr die Hand auf die Schulter legte und über ihren Nacken strich, beugte sie sich weg. »Es wird bestimmt schön.«
»Geht ihr nur«, sagte sie.
Das Gesicht ihrer Mutter schob sich in ihr Blickfeld. »Wie wär’s dann mit einem Restaurant?« fragte sie. »Sollen wir nicht alle drei irgendwo essen gehen? Was meinst du?«
»Nein, wirklich«, sagte sie, »geht nur.«
An dem Tag, an dem sie den Wagen abholten, an dem Dana dem Werkstattbesitzer den Scheck der Versicherungsgesellschaft überreichen, ihre Schlüssel in Empfang nehmen und, ganz gleich, was Bridger oder ihre Mutter oder sonst jemand dazu zu sagen hatten, auf dem kürzesten Weg zu Peck Wilsons Haus fahren wollte, in der Hoffnung, den Mercedes in der Einfahrt stehen zu sehen, schien die Sonne direkt vor dem Fenster des Wohnzimmers ihrer Mutter aufzugehen, und als Bridger und sie schwitzend und zu Fuß an der Grand Central Station eintrafen, stand sie bereits hoch am Himmel und versengte die Erde. Bridger hatte Dana überredet zu laufen – zum einen, weil ihnen die Bewegung guttun würde, zum anderen aber, weil es keinen Grund gab, Geld für ein Taxi auszugeben, wenn sie beide arbeitslos waren und keinen Kredit mehr hatten. Dana kaufte drei Literflaschen Wasser, während Bridger eine braune Papiertüte mit Bagels, eine Times und eine Daily News besorgte. Dann setzten sie sich in einen Waggon der Metro North, als wären sie Pendler, die aufs Land fuhren. Die anderen Passagiere wirkten gelangweilt und genervt. Niemand sagte etwas, und das gefiel ihr auf eine seltsame Art: Das Schweigen der anderen legte sich über ihre Stille. Sie stellte sich die Geräusche vor – das Rattern des Fahrwerks, das Zischen der automatischen Türen –, als Bridger ihren Arm anstieß und sie um eine der Wasserflaschen bat.
Er schraubte den Verschluß auf und trank, bis er die Flasche absetzen und Luft holen mußte. Auf seiner Oberlippe glänzten Schweißperlen, und die verschwitzten Haare standen in alle Richtungen ab. »Heiß«, sagte er. »Mann, ist das heiß.« Er reichte ihr einen halben Bagel. Draußen zog der Fluß vorbei und sah aus, als hätte man die übliche graugrüne Brühe durch frisches, klares Leitungswasser ersetzt. »Erinnerst du dich an die Fotos aus...?« sagte er. Das letzte Wort verstand sie nicht. Es war irgendein langer Ortsname.
»Was?«
»Afghanistan«, sagte er und buchstabierte es. »Aus dem Krieg vor... Wann war das? Vor ein paar Jahren. Ist dir aufgefallen, daß jeder Mudschaheddin im Kampf immer drei Sachen dabeihatte? Eine Kalaschnikow, einen Raketenwerfer und eine Literflasche Evian wie die hier.«
»Ja«, sagte sie, »ja, das war komisch. Da sieht man mal, welchen Wert bestimmte Dinge haben, wenn man sonst nichts hat.«
»Stimmt. Wenn man nichts hat, kein Wasser, keine Bäume, nichts als Steine. Darum jagt man dann das World Trade Center in die Luft. Darum hat man Waffen – damit man sich nehmen kann, was man haben will.«
»Wie Peck Wilson.«
Er sah sie an. Der Zug schlingerte über eine Weiche, so daß der Bagel in seiner Hand einen plötzlichen Satz machte: Sie sah ihn vor dem Hintergrund des Hudson, fest umklammert von Bridgers Fingern. »Ja«, sagte er. »Wie Peck Wilson.«
»Glaubst du, er hat eine Waffe?«
Er zuckte die Schultern. »Er hat im Knast gesessen, stimmt’s? Das hat uns Frank Calabrese doch erzählt.«
»Ja. Und?«
»Ein Grund mehr, sich von ihm fernzuhalten. Ich meine, sieh dir doch
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