Talk Talk
Hilfe der Ellbogen schob sie sich über den Kachelboden zur nächsten Pritsche und stemmte sich dagegen, und im nächsten Augenblick war sie wieder auf den Beinen, wenn auch ein wenig wacklig. Sie sagte etwas – »Was glotzt du so?« –, aber Dana war sich nicht sicher, denn selbst ein Einstein unter den Gehörlosen bekam, wenn er vom Mund ablas, nicht mehr als etwa dreißig Prozent des Gesagten mit, ganz gleich, was die Hörenden dachten. Aber die kannten ja bloß Filme, in denen eine elfenhafte Schauspielerin so tat, als wäre sie taub, und Gespräche führte wie ein ganz normaler Mensch, während ihre beschwörenden, leinwandfüllenden Augen geradezu eine Parodie auf Mitgefühl und Bedürftigkeit waren. Aber so funktionierte das nicht. Im Englischen waren so viele Laute monophon, erforderten so viele Wörter identische Lippenbewegungen, daß sie unmöglich zu unterscheiden waren. Der Zusammenhang, es kam auf den Zusammenhang an. Man mußte raten. Dana sagte nichts. Sie sah die Frau mit einem schwachen Lächeln an, ließ sich auf der anderen Pritsche nieder und hoffte, daß ihre Körpersprache vermittelte: Ich bin keine Bedrohung. Ich will bloß helfen.
Lange starrte die Frau sie nur an. Auf ihrer Stirn wuchs jetzt eine Schwellung, knapp über dem linken Auge, die Haut war gespannt und abgeschürft. Dana wandte den Blick nicht von ihr – etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig: Nur so hatte sie die Chance, die andere zu verstehen, sollte sie noch einmal mit ihr sprechen, und das letzte, was Dana unter diesen Umständen wollte, war, daß diese Frau dachte, sie ignoriere sie oder sehe auf sie herab.
Aber jetzt redete die Frau wieder. Sie schien etwas zu fragen, denn sie zog die Augenbrauen hoch. Aber was war es? Dana sagte: »Ich verstehe nicht.«
»Was ist – bist du taub oder was?« sagte die Frau, und diesmal verstand Dana jedes Wort: Diese Frage hatte sie tausendmal von tausend Mündern abgelesen. Sie gab sich Mühe, ihre Stimme leise und nicht bedrohlich klingen zu lassen, aber trotz all der Sitzungen bei der Sprachtherapeutin war es immer Glückssache. »Ja«, sagte sie.
Im Gesichtsausdruck der Frau vereinten sich Unglauben und ein Aufwallen von Wut. Vielleicht sagte sie: »Willst du mich verarschen?« Oder: »Kein Scheiß? Wirklich?« Ihre Lippen bewegten sich, aber sie war offensichtlich betrunken – betrunken und randalierend , hieß es nicht so in den Polizeiberichten? –, und die lallenden Bewegungen von Zunge und Lippen hätten die Worte ohnehin entstellt. Aber dann kam wieder eine Frage, diesmal verbunden mit einer universalen Geste: Sie schob mühsam die Hände hinter ihrem Rücken hervor, spreizte zwei Finger zu einem V und spitzte mit gesenktem Kopf die Lippen, als würde sie einatmen. Zigarette , sagte sie. Hast du eine Zigarette?
Dana schüttelte nachdrücklicher als sonst den Kopf, und für den Fall, daß ihre Mitgefangene diese Geste falsch verstand oder dachte, Dana verstelle sich oder sehe womöglich auf sie herab, sagte sie: »Tut mir leid, ich rauche nicht.«
Die Stunden gingen dahin, und niemand kam, um sie zu holen, weder Bridger noch der wachhabende Beamte oder Iverson oder irgendein mit Empörung aufgepumpter Anwalt. Niemand kam, nichts geschah. Die betrunkene Frau – sie hieß Angela – hielt ein paar lange, von vielen Lippenbewegungen begleitete Reden, von denen Dana kaum etwas verstand, und schließlich kam die Aufseherin oder Wärterin oder wie immer man sie nannte mit ein paar Schlüsseln, sagte etwas zu Angela und nahm ihr die Handschellen ab. Kurz darauf kehrte sie zurück und reichte zwei braune Papiertüten durch das Gitter. Es war das Abendessen: eine hauchdünne Scheibe Wurst mit einem Klecks Ketchup zwischen zwei Scheiben Weißbrot, gelbe, fleckige Äpfel, gezuckerter Fruchtsaft in einem kleinen Pappkarton mit angeklebtem biegsamem Trinkhalm – und als Dana die Tüte in Empfang nahm, als sie sie in der Hand hielt und ihr fühlbares Gewicht spürte, wäre sie beinahe zusammengebrochen. Sie wäre tatsächlich zusammengebrochen, wenn sie allein gewesen wäre, doch hier gab es keine Privatsphäre. Die Wärterin stand mit leerem Gesicht da, und Angela nahm ihre Tüte, als wäre sie randvoll mit menschlichen Exkrementen.
Es war nicht so sehr der Kontrast zwischen Weißbrot mit Wurst und Phat Thai, der Gegensatz zwischen dieser Zelle und dem Restaurant mit seinen exotischen Düften, den Aquarien und den hin und her eilenden Kellnern, es war nicht einmal die
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