Talk Talk
Absurdität der Situation, die Ungerechtigkeit und Zeitverschwendung, sondern vielmehr die Tatsache, daß dieses Abendessen ihre erste Zeitmarke war, seit man sie hier eingesperrt hatte. Wenn dies das Abendessen war, dann mußte es etwa sechs Uhr sein, mindestens sechs Uhr, und niemand war ihr zu Hilfe geeilt, nicht Bridger, nicht ein Anwalt und auch nicht ihre Mutter in New York – die hätte immerhin Telefonate führen, Verbindungen spielen lassen und für ihre gehörlose Tochter Himmel und Hölle in Bewegung setzen können. Nichts. Nichts als Mauern und Gitterstäbe und Angela, die sich nach einer Weile auf der anderen Pritsche zusammengerollt und in einen betrunkenen tiefen Schlaf zurückgezogen hatte.
Zuvor war Dana ungeduldig und wütend gewesen, doch jetzt war sie verängstigt, einsam und verwirrt. Sie wollte raus, nur raus, und sie fing wieder an, im Kreis zu gehen, immer im Kreis, einen Schritt nach dem anderen, wie ein neurotisches Zootier. Irgendwas war schiefgelaufen. Bridger war nicht durchgedrungen. Er hatte es nicht geschafft, die Kaution aufzutreiben oder einen Rechtsanwalt zu finden, weil alle Anwälte der Stadt ihre Kanzleien für das Wochenende geschlossen hatten. Schlimmer noch: Es kamen immer neue Anklagen herein – diese andere Dana Halter, wer immer sie sein mochte, war eine regelrechte Serientäterin. Tulare County. Wo zum Teufel war das überhaupt? Lag es denn nicht auf der Hand, daß sie nichts damit zu tun hatte? Sie schlang die Arme um die Brust und ging weiter im Kreis. Sie konnte nichts anderes tun.
Irgendwann – eine oder vielleicht zwei Stunden später – schwang die Tür am Ende des Korridors auf, und die größere der beiden Polizistinnen erschien, die rechte Hand am Ellbogen einer blonden Frau, die wie Ende Dreißig, Anfang Vierzig wirkte und nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein schien. Sie kamen durch den Korridor, und jetzt stützte sich die Frau schwer auf ihre Begleitung. Die Zellentür öffnete sich kurz, Angela feuerte ein paar Flüche ab, bevor sie den Kopf wieder auf die angezogenen Arme sinken ließ, und dann waren sie zu dritt. Die Tür fiel ins Schloß und machte dabei bestimmt einen Knall – in Büchern fielen Türen immer mit einem Knall ins Schloß –, im nächsten Augenblick war die Polizistin verschwunden, und die blonde Frau stand verwirrt da, als könnte sie den Ablauf der Ereignisse nicht ganz begreifen: die Hand an ihrem Ellbogen, das Öffnen und Schließen der Tür, das Drehen des Schlüssels im Schloß und die Tatsache, daß zwischen ihr und der nackten, grauen Wand des Korridors vertikale Stäbe aus Stahl waren.
Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Gitterstäbe und sah sich verwundert um, bevor sie sich langsam zu Boden sinken ließ. Sie war betrunken, soviel war sicher, doch als Betrunkene das Gegenteil von Angela. Ihr Haar, das aussah, als wäre es vor zehn Minuten von einem Friseur gewaschen, gelegt und getrocknet worden, war etwas rechts von der Mitte gescheitelt und fiel schimmernd auf ihre Schultern. Sie trug ein sehr geschäftsmäßig wirkendes marineblaues Kostüm, an dessen Brust eine frische weiße Nelke steckte, dazu eine weiße Seidenbluse und hauchdünne Strümpfe, aber keine Schuhe – die hatte man ihr wohl bei der Einlieferung abgenommen. Dana versuchte gerade, sich zu entscheiden, ob sie Rechtsanwältin oder Maklerin war, als die Frau sie ansah und breit und strahlend anlächelte. »Hallo«, sagte sie. »Ich heiße Marcie, und Sie?«
Angela regte sich, hob den Kopf und sagte etwas. Dana sah, wie ihr Mund erst breit und dann rund wurde. »Sie ist taub« – das sagte sie.
Dana ignorierte sie. »Ich heiße Dana«, sagte sie.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Marcie und fügte noch etwas hinzu, was Dana nicht verstand.
Angela sagte wieder etwas. Es sah aus wie: »Ich sag doch, sie ist taub.« Und dann noch etwas. Und dann machte sie zu Marcie die Gebärde des Rauchens.
Marcie grinste noch immer. »Ich bin betrunken«, sagte sie, ohne auf Angela zu achten, und starrte Dana an. Sie bewegte mechanisch die Lippen und artikulierte so langsam und exakt wie möglich. »Ich mußte auf einem Strich gehen und das Alphabet singen. Ist das nicht ein Knaller?«
Dazu fiel keiner von beiden etwas ein. Selbst wenn Dana sie richtig verstanden hatte – und dessen konnte sie nicht sicher sein –, war die Aussage fragwürdig: Sie saßen im Gefängnis, alle drei, ob schuldig oder unschuldig, betrunken oder nüchtern. Und das war
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