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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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überhaupt nicht bemerkt hätte. Und das waren keine Taschenspielertricks, wie ihre hörenden Freundinnen immer vermutet hatten, besonders in der Grundschule, nachdem ihre Mutter sie in die Welt der Hörenden gestoßen hatte, damit sie das normale Leben kennenlernte. Sie war das einzige gehörlose Kind unter mehr als achthundert hörenden gewesen. Die Kinder aus der Nachbarschaft waren die Treppe raufgeschlichen und hatten die Tür zu ihrem Zimmer aufgestoßen, nur um festzustellen, daß sie dastand und sie anstarrte. Nein, es war kein Trick, sondern reine Biologie. Wenn man eines Sinnes beraubt war, rekonfigurierten sich die Nervenbahnen zugunsten der anderen Sinne: die Synästhesie der Natur. Wie oft hatte sie Ray Charles und Stevie Wonder als Beispiele angeführt?
    Sie verfolgte das Drama, das sich an der Zellentür abspielte: Zwei unbeholfene Polizistinnen mit ausladenden Hintern und Busen, die Gesichter vor Anstrengung gerötet, schoben eine dritte Frau wie einen liegengebliebenen Wagen. Hände flatterten wie Vögel, Schultern hoben und senkten sich, und die dritte Frau – die Gefangene – stand aufgerichtet zwischen den anderen, stemmte die rechte Schulter gegen das Zellengitter und zerrte an den Handschellen. Alle drei schrien und fluchten – das vertraute Vorwölben der Lippen bei dem Wort »Scheiße« flog von Mund zu Mund, als wäre es ansteckend wie ein Gähnen –, und die Polizistinnen ächzten vor Anstrengung: Hng, hng, hng . Dana hatte keine Ahnung, wie ein Ächzen klang, aber sie sah es geschrieben vor sich und legte es in ihre angespannten Münder. Das Ganze, diese ganze Danse macabre mit ihren Tritten, ihrem Gefuchtel, ihrer häßlichen Gewalt dauerte länger, als Dana es für möglich gehalten hätte: Es war ein Hin und Her, Boden wurde verloren und wiedergutgemacht, bis schließlich die breitschultrigen Frauen die Oberhand gewannen und die Gefangene in die Zelle stießen. Sie machte drei taumelnde Schritte, prallte gegen die Toilette und brach zusammen, als hätte man sie niedergeschossen.
    Beide Polizistinnen bewegten wütend die verzerrten Lippen, während die Kleinere, Stämmigere den Schlüssel im Schloß herumdrehte, und dann reckten sie die Schultern und stampften durch den Korridor, an dessen Ende sich die verschlossene Stahltür wie auf ein Stichwort vor ihnen öffnete. Die Frau auf dem Boden der Zelle regte sich nicht. Sie war benommen – vielleicht auch verletzt. Dana erhob sich zögernd von der Pritsche. War Blut zu sehen? Nein, kein Blut. Es war nur das dunkle, verfilzte Haar der Frau, das wie eine Pfütze unter der auf den Boden gepreßten Wange lag.
    Dana wußte nicht, was sie tun sollte. Die Frau brauchte Hilfe, aber wenn sie nun gewalttätig oder betrunken war – oder beides? Sie atmete, das verriet das Heben und Senken des Brustkorbs, und soweit Dana es aus diesem Winkel sehen konnte, hatte sie dort, wo ihr Kopf auf die verkratzten Kacheln geschlagen war, keine Platzwunde oder Prellung davongetragen. Sie wäre nicht so hart gefallen, wenn die Polizistinnen sich die Mühe gemacht hätten, ihr die Handschellen abzunehmen, aber das hatten sie eben nicht getan – es sollte wohl eine Art Strafe sein, dachte Dana, eine kleine Rache –, und so war sie über die Toilette gestolpert und gestürzt, ohne sich mit den Händen abfangen zu können. Dana beugte sich über die Frau und versuchte, kontrolliert zu sprechen. »Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich jemanden rufen?«
    In diesem Augenblick stieg ihr der Geruch in die Nase, ein wilder Gestank nach Straße, schmutzstarrenden Kleidern, Körperflüssigkeiten und ranzigem Essen. Die Frau trug eine dreckige dunkelbraune Polyesterhose, die ein Stück hinaufgerutscht war, ein kariertes Hemd, sechs Nummern zu groß, und billige, klobige Arbeitsstiefel ohne Schnürsenkel. Sie hatte keine Socken an, und an ihren Knöcheln klebte Schmutz wie Flechten an einem Felsen. Dana legte die Hand auf ihren Arm. »Hallo?« sagte sie. »Sind Sie wach?«
    Plötzlich riß die andere die Augen auf, dunkle Augen, erdfarben, Augen, die wie Astwuchs in einem Holzbrett aussahen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Knurren. Sie sagte etwas, etwas Hartes, Zurückweisendes (»Finger weg!« – ja, das war es), und versuchte sich aufzusetzen. Sie brauchte drei Anläufe. Ihre Beine waren ausgestreckt, die Hände waren auf den Rücken gefesselt, und als Dana sagte: »Soll ich Ihnen helfen?« wiederholte die Frau: »Finger weg, hab ich gesagt!«
    Mit

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