Talk Talk
sie hinaus ins Tageslicht führen, und sie würden sich vor Entschuldigungen überschlagen: der wachhabende Beamte, der Polizist, der sie festgenommen hatte, Iverson mit seinem pedantischen Mund und anklagenden Blick, seinen unverzeihlich schlampigen Gebärden...
In ihrer Erregung – in ihrer Wut und Verzweiflung – stellte sie fest, daß sie immer im Kreis um die Toilette herumging, die in diesem minimalistisch funktionalen Raum der einzige Einrichtungsgegenstand war, abgesehen von den beiden an der Wand befestigten Pritschen, auf die sie sich aber noch nicht setzen wollte. Sie führte Selbstgespräche, redete sich gut zu, sich zu beruhigen, und vielleicht bewegte sie dabei die Lippen, vielleicht sprach sie laut, schon möglich. Nicht daß das irgendeinen Unterschied machte. Es war niemand da, der sie hätte hören können. Freitag morgen war eine ungewöhnliche Zeit, um verhaftet und eingesperrt zu werden. Die wirklichen Verbrecher lagen noch im Bett, und die anderen – die Frauenverprügler, die Säufer, die Motorradtypen – waren in der Arbeit und freuten sich auf den Abend. Thank God it’s Friday! Sie dachte ans College und daran, daß damals der Freitagabend der Höhepunkt der Woche gewesen war, die einzige Zeit, in der sie wirklich locker und unbeschwert hatte sein können, viel mehr als am Samstag, denn nach dem Samstag kam der Sonntag, und der war entwertet durch die Aussicht auf den Montag, wenn das ganze Theater mit Seminaren, Hausarbeiten und Prüfungen weiterging. Sie war mit ihren Freundinnen ausgegangen, hatte ein paar Bier und ein Glas Cuervo getrunken und dann getanzt, bis der Rhythmus der Musik von ihren Fußsohlen aus durch den ganzen Körper geströmt war und sie beinahe das Gefühl gehabt hatte, hören zu können wie alle anderen. Sie hatte sich nach diesem Loslassen gesehnt, nur danach, denn sie hatte sich so anstrengen müssen, um ihre Behinderung auszugleichen – und noch heute arbeitete sie härter als alle, die sie kannte; sie trieb sich mit ihrer inneren Peitsche an, die all ihre Kindheitswunden offen und den Schmerz lebendig gehalten hatte. In der Schule hatte sie den Spott ihrer Klassenkameraden erduldet, sie hatte es ertragen, daß man sie als »langsam« brandmarkte. Taubstumm. Doof. Man hatte sie als doof bezeichnet – sie, die es mit jedem Hörenden aufnehmen konnte, mit jedem jenseits dieser Mauern. Die waren die Idioten. Die Polizisten. Die Richter. Die Dolmetscher.
Freitag abend. Bridger und sie wollten irgendwo thailändisch essen und sich dann einen Film ansehen, an dem er gearbeitet hatte, irgendeine wilde Kung-Fu-Geschichte, in der die Schauspieler an unsichtbaren Drähten durch die Luft flogen wie Peter Pan. Sie hatte sich die ganze lange, verrückte Arbeitswoche hindurch darauf gefreut. Die Studenten hatten ihre Arbeiten abgegeben, sie hatte an endlosen Konferenzen und Fakultätssitzungen teilnehmen müssen und kaum Zeit gehabt, sich auf das zu konzentrieren, was sie selbst schreiben wollte, und dabei türmten sich die Rechnungen, und sie war nicht dazu gekommen, sich hinzusetzen und Schecks auszustellen, ganz zu schweigen davon, daß die Elektrizitäts- und Gasgesellschaft und American Express und Visa durch Zahlungen besänftigt werden mußten, und obendrein hatte sie noch diesen Backenzahn unten links, der unablässig wütend pochte – und sie fragte sich, ob irgend jemand Dr. Stroud Bescheid gegeben hatte.
Da war die Toilette. Der Thron, wie ihre Mutter immer gesagt hatte. Unwillkürlich dachte sie über dieses Wort nach (war das Knastsprache? Stammte dieser bildhafte Ausdruck von Gefangenen?), bis sie merkte, daß sie sie benutzen mußte, denn der pißwarme Kaffee war in Urin – in Pisse – verwandelt worden, und sie blickte zur Nachbarzelle und den leeren Korridor entlang zu der großen Stahltür. Hatten die hier Kameras? Wartete in irgendeinem miefigen Büro irgendein schmutziger Wärter oder infantiler Polizist darauf, daß sie den Rock hob und sich auf das Edelstahlbecken hockte? Allein bei dem Gedanken wurde ihr wieder ganz heiß. Das Vergnügen würde sie ihnen nicht machen – eher würde sie ihre Körperausscheidungen resorbieren oder an einem Blasenriß sterben. Sie ging um die Toilette herum, zwang sich, nicht daran zu denken, und tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sehr bald wieder frei sein würde, und dann würde sie, wie jede andere unschuldige Bürgerin, die Damentoilette im Gerichtsgebäude benutzen.
Die Zeit verging. Sie wußte nicht,
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