Talk Talk
wegen Behinderung eines Beamten in Ausübung des Dienstes oder ähnlichem Unsinn. »Schon gut«, sagte sie laut, »schon gut«, und der Beamte nahm sie am Ellbogen, führte sie durch den Korridor, öffnete eine schwere Tür und sperrte sie wieder in die Zelle zu Angela und Beatrice Flowers und den anderen.
Es war beinahe Mitternacht, als sie schließlich aus dem Bezirksgefängnis in Thomsonville, fünfundzwanzig Kilometer von San Roque entfernt, entlassen wurde, und Bridger wartete in einem überfüllten, grellerleuchteten Saal auf sie. Lange hielt sie ihn einfach im Arm. Sie hatte nicht weinen wollen, aber als alles vorbei war und sie ihn dort sah, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Dann gingen sie zum Ausgang, und sie machte sich von ihm los, rannte hinaus und stand für einen langen Augenblick auf den Stufen und spürte die Luft auf ihrem Gesicht: salzig und ganz leicht nach Fisch riechend, gekühlt vom Meer, reine Luft, seit Freitag morgen die erste reine Luft in ihren Lungen. Bridger blieb hinter ihr stehen und legte ihr einen Arm um die Schultern, doch sie stieß ihn weg. Mit einemmal war sie wieder wütend. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es da drinnen war?« wollte sie wissen. »Kannst du dir das vorstellen?«
Auf dem Heimweg, auf dem ganzen Weg zu ihrer Dusche, ihrem Bett und der Tür, die Menschen aussperrte und nicht einsperrte, versuchte er, ihr alles zu erklären, aber sie verstand nur sehr wenig, denn seine Hände waren am Lenkrad, und er bewegte den Mund so schnell wie alle Hörenden, und das machte sie nur um so unnachsichtiger. Als sie endlich, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, aus dem Badezimmer trat, als das Bier, das er ihr geholt, und das Sandwich, das er ihr gemacht hatte, auf dem Couchtisch standen, führte er sie zum Computer und begann wie wild zu tippen. Er schrieb eine ausführliche Rechtfertigung, die der Epilog eines russischen Romans hätte sein können, und sie sah, was er getan und wie sehr er sich angestrengt hatte, und daß nicht er schuld war, sondern das System – oder nein, der Dieb , der Dieb war schuld, und jetzt kam ihr das Bild seines Gesichts in den Sinn, dieses verschwommene, mit ihrem Namen versehene Gesicht auf einem Stück Papier, das Gesicht eines Mannes , man stelle sich vor, eines Mannes , und nach einer Weile lehnte sie sich an ihn, schlang die Arme um ihn und begann zu verzeihen.
Am nächsten Morgen fuhr Bridger sie zur Arbeit. Sie hatte nicht viel geschlafen, ihre Träume waren widersprüchlich und vergiftet, und jedesmal, wenn sie aufwachte, schnappte sie nach Luft, denn sie dachte, sie sei wieder dort, im grellen Licht, auf dem harten Zellenboden. Dennoch kam sie zwanzig Minuten zu spät, und wäre Bridger nicht gewesen, hätte sie sich noch mehr verspätet – sie hatte sich antrainiert, vom Blitzen des Weckers aufzuwachen, doch sie war so erschöpft wie noch nie in ihrem Leben und hätte glatt weitergeschlafen, wenn Bridger sie nicht geweckt hätte. Als sie gestern nacht aus dem Bad gekommen war, hatte sie – noch bevor sie das kalte Bier aus der Flasche getrunken und das Sandwich, eine halbe Riesentüte Chips und einen ganzen Beutel Kekse verschlungen hatte – als erstes eine E-Mail an Dr. Koch geschrieben. Drei Seiten. Darin schilderte sie in allen Einzelheiten, was sich in den dreiundachtzig Stunden zwischen ihrer Verhaftung und ihrer Entlassung in Thomsonville zugetragen hatte, denn sie wußte, daß sie sich schriftlich besser mitteilen konnte als im persönlichen Gespräch und daß sie alle Argumente vortragen mußte – Koch war ein harter, grüblerischer, säuerlicher kleiner Mann, der sich für großartig hielt und keine Ausflüchte duldete, und er stellte an die gehörlosen Lehrer ebenso hohe Anforderungen wie an die hörenden. Vielleicht sogar noch höhere. Sie brauche sein Verständnis, schrieb sie im letzten Absatz, und versprach, ihn vor der ersten Unterrichtsstunde aufzusuchen und die gerichtliche Bescheinigung ihrer Unschuld mitzubringen. Aber das war das Problem: Sie kam zwanzig Minuten zu spät, und der Unterricht hatte ohne sie begonnen. Dr. Koch hatte ihre Klasse übernommen, und nie hatte sie ihn so verärgert gesehen.
Als sie eintrat, erhob er sich von ihrem Pult – er hatte die Schüler angewiesen, sich in ihr Lehrbuch zu vertiefen, während er sich durch einen Stoß Unterlagen arbeitete, die seine Sekretärin ihm in die Hand gedrückt hatte, als er aus dem Büro geeilt war – und bedachte sie mit einem Blick,
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