Talk Talk
mochte sie ihn nicht, vielleicht hatte sie ihm einen gehörigen Teil Schuld an dem gegeben, was mit ihr geschehen war – er hätte eingreifen und erklären sollen, daß man die falsche Person verhaftet hatte, er hätte beharren, seinen Einfluß geltend machen und sie herausholen sollen –, doch jetzt sah sie ihn an, als wäre er ihr Erlöser. Endlich, endlich geschah etwas. Er stellte ihr die Frau vor, die Dana ihre Visitenkarte reichte – Marie Eustace, Pflichtverteidigerin –, sich zu ihr beugte und sie befragte, bis sie verstanden hatte, daß hier ein Irrtum vorlag. Iverson dolmetschte mit eckigen, mechanischen Gebärden. Es dauerte nicht länger als fünf Minuten. Man werde die Identität des wahren Täters feststellen und sie im Handumdrehen freibekommen, versprach Marie Eustace. Ihr Gesicht verriet höchste Empörung, und sie sagte, sie sei äußerst wütend darüber, daß das Gericht diesen Fehler nicht längst bemerkt habe. »Keine Sorge«, versicherte sie Dana, »Sie werden in Null Komma nichts wieder frei sein«, und dann wandte sie sich Angela zu, um sich mit ihr zu beraten.
Dana hatte noch nie vor Gericht gestanden, und unter anderen Umständen hätten die Flaggen, der Wandteppich, das große Siegel und alles andere sie gewiß beeindruckt, doch als sie auf der Anklagebank saß, empfand sie nur dieselbe Scham und Wut wie am Morgen ihrer Verhaftung, allerdings mindestens um das Zehnfache vergrößert. Sie brachte es nicht über sich, den Kopf zu heben und die Zuschauerreihen nach Bridger abzusuchen, sie konnte nichts anderes tun, als sich tief in sich selbst zurückzuziehen und sich zu verschließen. Das ganze Wochenende über hatte sie sich abgelenkt, indem sie in Gedanken die Gedichte rezitiert hatte, deren Rhythmus sie im Unterricht immer wieder klopfte, damit ihre Studenten ein Gefühl für die darin enthaltene Musik entwickelten, damit die Iamben, Daktylen und Trochäen in ihren Köpfen sangen, während Danas Hand auf einen Tisch nach dem anderen pochte. Das gleiche tat sie auch jetzt – sie hielt den Kopf gesenkt, blendete ihre Umgebung aus und sprach in Gedanken: Wie meine Hand auf diesen Tasten / Musik erzeugt, erzeugen diese Töne / Musik in meinem Geist.
Als sie, nach Angela, nach dem dicken Mädchen mit dem geschorenen Schädel (das den unpassenden Namen Beatrice Flowers trug), nach einem halben Dutzend Männern, die mit zusammengebissenen Zähnen und unruhigen Schultern vor der Richterin standen, endlich an der Reihe war, erwachte sie lange genug aus ihrer Trance, um den ganzen Gerichtssaal mit der entfesselten Kraft ihrer Stimme aufzuschrecken. »Ja«, sagte sie und erhob sich, als Iverson ihr zu verstehen gab, daß man ihren Namen aufgerufen habe, »hier.« Sie hob den Kopf und sah Bridger, dessen Gesicht ihr zuzurufen schien, und er war der einzige im Saal, der beim Klang dieser beiden Worte nicht zusammenzuckte. Sie zeigte ihm nichts – keine Hoffnung, keine Freude, keine Liebe. Sie setzte sich wieder und senkte den Kopf.
Noch mehr Warten. Ewiges Warten. Fälle wurden verhandelt und entschieden, Anklagen wurden verlesen, Anklageerwiderungen vorgetragen und protokolliert, Kautionen festgesetzt und Geldstrafen ausgesprochen. Um Viertel nach vier kehrte Marie Eustace zurück, sprach mit der Richterin und legte als Beweismittel Faxe aus allen fraglichen Gerichtsbezirken vor, die Richterin setzte ihre Lesebrille auf und vertiefte sich darein, während die anderen Beamten untätig dasaßen und die Zuschauer die Saaldecke studierten oder leise hinausgingen, um etwas Dringendes zu erledigen. Dann nahm die Richterin ihre Brille ab und rief Dana erneut auf. Iverson dolmetschte, und Dana schob sich an den anderen Angeklagten vorbei und trat vor die Richterempore. Wenigstens hatte man ihr die Fußfesseln abgenommen, wenigstens das.
Die Augen der Richterin waren milchigblau und verbleicht, als wären sie aller Lebenskraft beraubt, doch sie verfügte über ein Lächeln, ein bedauerndes Lächeln, das sie für Gelegenheiten wie Dana Halters Rehabilitierung bereithielt. Dana sah es kommen – ja, es war ein Fall von Personenverwechslung oder, schlimmer noch, von Identitätsdiebstahl –, und ihre Lethargie wich plötzlich einer Wut, die wuchs und wuchs, bis sie sie nicht mehr beherrschen konnte. »Das Gericht spricht Ihnen sein tiefempfundenes Bedauern aus«, sagte die Richterin, während Iversons Hände vor Danas Augen fuhrwerkten, »denn ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Aber bevor diese
Weitere Kostenlose Bücher