Talk Talk
Aktenordner, den sie heute morgen in aller Eile aus einer Schreibtischschublade gezogen und unter den Arm geklemmt hatte. »Guten Tag«, sagte sie laut, aber er antwortete nicht. Er saß über den Schreibtisch gebeugt da, versah die Abschlußzeugnisse, die am Samstag morgen ausgegeben werden würden, mit seiner winzigen Unterschrift und legte sie von einem Haufen auf den anderen, und jedesmal, wenn es schien, als würde er seine Tätigkeit unterbrechen und aufsehen, griff er nach dem nächsten Formular.
Das Büro sah ziemlich normal aus. Überall stapelten sich Bücher und Papiere, die Wände waren mit diversen Zertifikaten, gerahmten Fotos von Abschlußklassen und den bunten Wimpeln der Colleges geschmückt, die Absolventen der Schule besucht hatten: University of San Francisco, Yale, Stanford, Gallaudet. Dana versuchte sich zu erinnern, wann sie zuletzt in diesem Raum gewesen war – konnte es sein, daß das vor nunmehr einem Jahr gewesen war, bei ihrer Einstellung? –, und ihr Blick blieb an einem sehr kleinen, in Öl ausgeführten Porträt hängen, auf dem Dr. Koch in irgendeinem Saal vor einem nur schemenhaft erkennbaren Publikum gebärdete. Der Künstler schien eine Vorliebe für Rot gehabt zu haben, denn das Gesicht des Dargestellten glich in Farbe und Beschaffenheit einem rohen Stück Fleisch.
Das ist alles sehr unerfreulich«, sagte er, sah abrupt auf und machte zugleich Gebärden, damit sie ihn ansah. »Eine Katastrophe. Und der Zeitpunkt könnte nicht schlechter gewählt sein. Ich meine, bitte: in der letzten Woche. Haben Sie überhaupt schon die Abschlußnoten ermittelt?«
Vielleicht lag es daran, daß sie gereizt war – ihr Wagen stand noch immer auf dem Parkplatz der Verwahrstelle, irgendwo da draußen gab sich ein Krimineller als sie aus, sie hatte drei Nächte lang kaum geschlafen, und hätte ihr jemand einen Elektrostock in den Mund gesteckt, so hätte es sich nicht schlimmer anfühlen können –, aber er hatte die falschen Worte gewählt. Sie traten durch Danas Augen ein, wurden im Gehirn verarbeitet und setzten eine Reaktion in Gang, die sie veranlaßte, so unvermittelt aufzustehen, daß ihr Stuhl umfiel und mit einem Geräusch auf den Boden schlug, das vermutlich dumpf war, wenn sie es nur hätte hören können. Sie reden, als wäre es meine Schuld , gebärdete sie.
Er musterte sie unverwandt, die Hände auf dem Schreibtisch gefaltet. Er konnte hören, aber er war sein Leben lang in der Gehörlosenbildung tätig gewesen und beherrschte die Gebärdensprache so gut wie ein Gehörloser, nur daß sie bei ihm jeden persönlichen Ausdruck vermissen ließ. Den konnte man nicht lernen, soweit Dana wußte. »Wer sonst sollte denn schuld sein?« sagte er, und seine Hände rührten sich nicht.
Haben Sie meine E-Mail nicht bekommen? fragte sie.
»Ich habe sie bekommen. Aber daraus geht nicht einmal annähernd hervor, warum Sie sowohl am Freitag als auch am Montag nicht zum Unterricht erschienen und obendrein heute zu spät gekommen sind. Hätten Sie nicht wenigstens anrufen können? Wäre das nicht ein Gebot der Höflichkeit gewesen?«
Ich war im Gefängnis.
»Ich weiß. Deswegen führen wir ja dieses Gespräch.« Er senkte den Blick auf den Schreibtisch, hob einen Papierbeschwerer in Form eines Footballs auf (Zweiter Platz, Division III Playoffs, 2001) und stellte ihn wieder hin. »Man darf doch telefonieren.«
Einmal. Man hat einen Anruf. Ich hab meinen Freund angerufen –
»Schön. Schön für Sie. Aber hätte er nicht anrufen können? Oder sonst irgend jemand?«
– damit er mich auf Kaution rausholt.
»Ihre Schüler haben sich Sorgen gemacht, vor allem diese Rogers, wie heißt sie noch, Crystal. Wir alle haben uns Sorgen gemacht. Und ich finde es ziemlich unprofessionell – und rücksichtslos –, einfach so zu verschwinden. Noch dazu in der letzten Woche des Schuljahrs. Aber Sie sind nicht auf Kaution entlassen worden, stimmt’s?«
Sie haben meine E-Mail gelesen. Ich konnte nichts tun. Es war ein Fall von Verwechslung – nein, schlimmer, von Identitätsdiebstahl –, und wenn Sie denken, es sei eine reine Freude, eingesperrt zu sein, probieren Sie’s mal aus – Sie werden sich wundern. Es war schlimmer als der schlimmste Alptraum. Und Sie haben die Dreistigkeit, mir die Schuld zu geben?
»Ihr Ton gefällt mir nicht.«
Ihr Ton gefällt mir auch nicht.
Er schlug mit so großer kinetischer Energie auf die Schreibtischplatte, daß ein Papierstoß sich neigte, und während die
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