Talk Talk
Bild, das sie heraufbeschwor: das Bild eines Hundes, der zusammengestaucht wurde – hieß das so? Zusammengestaucht? – und unter all diesen unverhohlenen Hundegefühlen beinahe zusammenbrach. »Was ist?« fragte sie. »Was ist los?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Du meinst Frankreich?«
Eine volle Minute war vergangen, ohne daß einer von ihnen auch nur kurz zur Eingangstür auf der anderen Straßenseite gesehen hatte. Sein Blick war auf ihren Mund geheftet, als wäre er derjenige, der taub war. »Nein«, sagte sie und schüttelte langsam den Kopf, bewegte ihn hin und her wie das Pendel der Standuhr im Flur ihres Elternhauses, die allen außer ihr die Stunde schlug. »Ich würde gern, aber...«
»Du kannst es dir nicht leisten. Weil du keinen Job hast. Stimmt’s?«
Sie schlug die Augen nieder und machte ein Zeichen mit den Händen: Stimmt.
Beide sahen nach vorn, auf die Fassade von Mailboxes U.S.A . Sie hätten Architekturstudenten sein können – warum hatte sie nicht daran gedacht und Skizzenblöcke mitgebracht, Bleistifte, Kohlestifte und Radiergummis, die nach Tuttifrutti rochen? Oder vielleicht waren sie Gebäudeinspektoren. Oder Stadtplaner. Wenn sie in dem Gremium gewesen wäre, hätte sie dieses häßliche, gesichtslose Gebäude nicht genehmigt, niemals. Sie würde es abreißen lassen, ohne auch nur zweimal darüber nachzudenken, sie würde Eichen pflanzen, einen Brunnen bauen und ein paar Bänke aufstellen lassen. Das Bild vor ihrem geistigen Auge verschwand, und ihr Blick konzentrierte sich wieder auf das Geschehen dort drinnen, die unbestimmten Bewegungen der Gestalten hinter den spiegelnden Fenstern: Dort wurde gearbeitet, Post wurde verschickt und empfangen, Pakete wurden gewogen und Kopien gemacht, und an der Kasse drängten sich ein paar Kunden. Ihr Magen fühlte sich an wie ein Stein. Und dann spürte sie seine Berührung: zwei Finger an ihrem Kinn, die ihren Kopf sanft drehten. »Hast du dir überlegt, was du tun wirst?«
»Nein, nicht solange das hier nicht erledigt ist«, sagte sie und wies auf das Gebäude gegenüber. »Ich meine, ich werde noch bis Ende August bezahlt, aber ich muß natürlich jetzt schon anfangen, mich zu bewerben.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich – er wollte nicht, daß sie sah, wie er sich fühlte, aber er war ein miserabler Schauspieler. »Aber ich will nicht weg von hier, wenn du das meinst.«
»Ja, das meinte ich«, sagte er.
Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn. Da waren der vertraute Geschmack und Geruch, die Lippen, die nun eine ganz andere Sprache sprachen. Dann richtete sie sich wieder auf. »Ich würde zu gern nach Aveyron fahren, nach Lacaune und Saint-Sernin, na klar, aber ich fürchte, das kann ich mir nicht annähernd leisten, und der Dollar ist gerade ziemlich schwach... Außerdem würden sie mich wahrscheinlich verhaften, sobald sie meinen Paß auf das Lesegerät legen.« Sie verzog das Gesicht. »Dana Halter – tätlicher Angriff und Körperverletzung.«
»Aber wie kannst du über etwas schreiben, was du noch nie gesehen hast?«
Diese Antwort war leicht. Sie zeigte auf ihren Kopf. »Hier drinnen sehe ich alles. Und außerdem war ich ja schon dort, in Südfrankreich jedenfalls – in Toulouse, und das ist nicht so weit von Aveyron entfernt. Hab ich dir das nie erzählt?« Sie war als Mädchen dort gewesen, ein paar Jahre nachdem sie ertaubt war. Damals war sie zehn oder elf gewesen, etwa so alt wie das wilde Kind. Ihre Eltern hatten in jenem Jahr Urlaub in Europa gemacht und ihre Kinder – Dana und ihre beiden Brüder – mitgenommen, um ihren Horizont zu erweitern. In dieser Hinsicht waren sie – und vor allem Danas Mutter – praktisch denkende Menschen. Das galt besonders in Hinblick auf Dana: Von Anfang an sollte sie sowohl ganz und gar in die Gebärden- als auch in die Lautsprache eintauchen – ein Ansatz, den diejenigen, die den Umgang mit Gehörlosen zu ihrem Beruf gemacht hatten, als »totale Kommunikation« bezeichneten –, denn ihre Tochter sollte auf keinen Fall als Opfer ihrer Behinderung durchs Leben gehen oder auch nur im geringsten von irgend jemandem oder irgend etwas abhängig sein. Damals war ihre Mutter schön: Sie trug einen Cowboyhut aus Wildleder, den sie von einer Mexikoreise mitgebracht hatte, ihr Haar hing weit über die Schultern, und unter dem gelben Sommerkleid waren ihre Beine lang und nackt. Sie schloß die beiden kleinen Jungen und das taube Mädchen in die Arme. Dana wußte nicht, ob
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