Talk Talk
ihre Erinnerungen an diese Zeit von den Fotos im Familienalbum stammten oder von dem, was sie selbst gesehen, gerochen und gefühlt hatte. Wenn sie die Augen schloß, sah sie die Finger von Palmwedeln vor blassem Stuck, einen Fluß, der wie eine Straße aus Licht wirkte, und die neue Brücke (das war die in der Gegend geläufige scherzhafte Bezeichnung – in Wirklichkeit hatte Napoleon sie bauen lassen), die sich so flach über das Wasser reckte, daß es aussah, als wollte sie schwimmen.
»Du mußt wissen«, sagte sie und versuchte, den Augenblick festzuhalten und zu verlängern, denn gleich würde sie dort drüben hineingehen müssen, »daß eine fremde Gebärdensprache leichter zu lernen ist als eine Lautsprache. Viel leichter. Ich habe mich in der französischen Gebärdensprache sehr schnell zurechtgefunden. Meine Mutter war nämlich der Meinung, ich solle gehörlose französische Kinder kennenlernen.«
»Ikonizität«, sagte Bridger zu ihrer Überraschung. »Zum Beispiel, wenn du die Gebärde für ›Tasse‹ machst.« Er bildete mit der flachen linken Hand die Untertasse und setzte die kreisförmig gebogenen Finger der rechten Hand darauf. »Das haben wir in dem Kurs gelernt, den ich belegt habe. Deutsch, Französisch, Chinesisch – es ist ganz gleich: Eine Tasse ist überall eine Tasse. Was ist mit Marcel Marceau? Ich wette, er wäre gut darin. Kann er Gebärdensprache?«
In diesem Augenblick nahm sie eine Bewegung auf der anderen Straßenseite wahr und fuhr zusammen. Ein Mann mit Baseballmütze, enganliegender Sonnenbrille und einem mit Blumenmuster bedruckten Hemd ging zum Eingang, als wäre er in Eile, als wäre jemand hinter ihm her. Er riß die Tür auf und verschwand drinnen. »Bridger!« rief Dana (vielleicht rief sie es; sie wußte es nicht genau, aber es fühlte sich so an). »Bridger, da ist er!«
Sie war aus dem Wagen gesprungen, bevor er ausgestiegen war, eine gehörlose Frau mitten auf der Straße, wo der Verkehr von beiden Seiten kam, und sie starrte einen UPS -Zusteller in seinem kastenförmigen braunen Lieferwagen an, der unmittelbar vor ihr zum Stehen gekommen war. Weder die Hupe noch das metallische Quietschen der Bremsen hatte sie gehört, und als Bridger sie eingeholt hatte und am Arm packte, ermahnte sie sich, nicht so impulsiv zu handeln, sich zu beruhigen, sich zu konzentrieren. Dann standen sie auf der anderen Straßenseite, auf dem Bürgersteig, und Bridger sagte vielleicht etwas, doch sie achtete nicht auf ihn: Ihre Augen fixierten die Tür. Sie sah im Glas ihr Spiegelbild, die schemenhaften Gestalten dahinter, das schimmernde Metall des Türgriffs, und sie holte tief Luft und ging, gefolgt von Bridger, hinein.
In dem Raum waren acht Personen. Sie versuchte, alle auf einmal in sich aufzunehmen, auch die untersetzte Frau hinter dem Tresen, die aufsah und sie erwartungsvoll anlächelte, und den alten Mann am Kopiergerät, der in den Hosentaschen nach Kleingeld kramte. Ihr Herz pochte wie wild. Die Deckenbeleuchtung schien schwächer zu werden und warf ein dünnes, trübes Licht auf die acht Menschen in ihren verschiedenen Posen, die sich hinunterbeugten, gestikulierten, lautlos die Lippen bewegten – und wo war er? Ihr Blick ging von einem zum anderen, und mit einemmal sah sie ihn: Da, an der Rückwand, wo die Postfächer von Hüft- bis Schulterhöhe in ordentlichen Reihen angebracht waren – das leuchtendbunte Hemd, das Profil unter dem Mützenschirm. Er stand vor einem Papierkorb, in den er Werbeprospekte warf. Versunken. Völlig versunken. Als wäre er der unschuldigste Mensch der Welt. Der Schweinehund. Sie konnte es nicht glauben.
Sie spürte, wie Bridger den Arm um sie legte, die mahnende Spannung in Handgelenk und Fingern. Ruhig , sagte er ihr damit, bleib ruhig . Es dauerte einen Augenblick, bis all die Wut und Fassungslosigkeit über die Art, wie man ihr Gewalt angetan hatte, in ihr aufgestiegen war, bis sie zum Bersten damit erfüllt und zu allem bereit war: zu der Bezichtigung, dem tätlichen Angriff, dem Schrei einer tauben Frau, so gellend und unmenschlich, daß er vielleicht den ganzen Block alarmieren würde – und dann nahm Bridger seinen Arm fort, legte zwei Finger an ihr Kinn und drehte ihren Kopf. Das ist er nicht , gebärdete er.
Sie sah genauer hin. Eine kleine Gebärde, ganz leise: Doch, er ist es. Er ist es.
Bridger schüttelte energisch den Kopf. Ihr Blick ging von ihm zu dem Mann mit der Mütze und wieder zurück. »Er sieht ihm nicht mal ähnlich«,
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