Tallinn-Verschwörung
Tür zu und pochte erneut. Da wurde die Tür aufgerissen, und er starrte in das aufflammende Licht einer Taschenlampe. Für Sekunden war er geblendet. Als er wieder sehen konnte, blickte er auf die dunkle Mündung eines Karabiners, die auf seinen Kopf zielte. Die Hirtin, die sie am Morgen gesehen hatten, hielt die Waffe in der Hand. Hinter ihr stand der Hund mit gefletschten Zähnen und gesträubtem Fell.
Torsten streckte die Handflächen nach vorne, um seine friedlichen Absichten zu bekunden, und versuchte zu lächeln. »Keine Sorge, ich tue Ihnen nichts. Ich brauche Hilfe. Meine Begleiterin ist krank.«
Das Gesicht der Frau, die nicht viel älter als vierzig sein konnte, aber von den scharfen Falten eines harten Lebens gekennzeichnet war, blieb abweisend. Sie hielt den Karabiner weiterhin auf Torsten gerichtet. Ihm fiel ein, dass er sie auf Deutsch angesprochen hatte, das sie mit Sicherheit nicht verstand, und wiederholte seine Worte auf Englisch, dann auf Französisch und Italienisch. Die Frau zeigte jedoch keine Anzeichen, dass sie auch nur eines seiner Worte begriff. Da Torstens Albanischkenntnisse nicht über ein halbes Dutzend Ausdrücke hinausgekommen waren, war eine Verständigung auf diesem Weg unmöglich. Trotzdem durchsuchte
er seine Erinnerung nach einem der Begrüßungsworte, die er von Leutnant Steiff gehört hatte.
»Mirëmbrëma!«
Die Augenbrauen der Frau wanderten leicht nach oben, als sie »Guten Abend« in ihrer Sprache hörte. Trotzdem blieb sie misstrauisch.
»Nga je?«
Torsten zog die Schultern hoch, hielt aber die Hände weiterhin vom Körper weg. »Ich verstehe Sie nicht. Ich will Ihnen nichts tun. Ich brauche Hilfe. Zonjúshë sëmúrë!« Er konnte nur hoffen, dass sie sein Gestammel verstand und begriff, dass seine Begleiterin erkrankt war.
Sie sagte etwas in ihrer Sprache, bei dem er nur die beiden Worte heraushörte, die er eben selbst verwendet hatte. Es schien eine Frage zu sein. Daher nickte er.
»Meine Begleiterin ist sehr krank. Sie braucht Medizin!«
Der Karabinerlauf wanderte ein wenig nach unten, doch dann richtete sie die Waffe wieder auf ihn und deutete mit dem Kopf auf die beiden Maschinenpistolen, die über seiner Schulter hingen. Da man mit der Frau anscheinend reden konnte, nahm Torsten die MPs vorsichtig von der Schulter und legte sie vor sich auf den Boden. Ein Wink mit der Waffe bedeutete ihm, ein paar Schritte zurückzutreten. Er tat es und sah zu, wie die Frau die Berettas mit dem Fuß ins Innere des Hauses schob, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Dann schloss sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Im ersten Moment war er verblüfft, dann hätte er am liebsten laut geflucht. Er hatte sich von dem Weibsstück übertölpeln lassen wie ein heuriger Hase. Jetzt war er die Waffen los und ohne Vorstellung, was er tun sollte. Er überlegte, ob er noch einmal klopfen sollte, doch da wurde die Tür bereits wieder geöffnet. Die Frau kam heraus, noch immer den Karabiner schussbereit in der Hand. Über der Schulter trug sie
einen Beutel, der den scharfen Geruch getrockneter Kräuter verströmte. Wie es aussah, hatte sie begriffen, worum er sie bitten wollte, und war bereit, Graziella zu helfen.
»Danke!« Die Erleichterung auf seinem Gesicht reichte aus, um die Albanerin den Sinn dieses Wortes erkennen zu lassen. Sie lächelte jetzt und gab ihm ein Zeichen, voranzugehen.
Für einen Augenblick stellte Torsten sich vor, wie Hoikens über ihn lachen würde, wenn er sehen könnte, wie sein Erzfeind mit vom Körper weggestreckten Händen vor einer bewaffneten Frau herging. Dann aber dachte er an Graziella und sagte sich, dass ihr Leben und ihre Gesundheit mehr wert waren als der verletzte Kriegerstolz eines Mannes.
EINUNDZWANZIG
G raziella war noch immer bewusstlos und schlotterte vor Kälte. Die Albanerin leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe an, winkte Torsten, ein paar Schritte beiseite zu gehen, und kniete dann neben der Kranken nieder. Den Karabiner legte sie so, dass sie jederzeit danach greifen konnte.
Sie schien einiges von der Versorgung von Kranken zu verstehen, denn sie untersuchte Graziella sorgfältig und flößte ihr einen aromatisch riechenden Trank aus einer kleinen Plastikflasche ein, die früher einmal mit der Brause eines amerikanischen Konzerns gefüllt gewesen war. Um das Gefäß benutzen zu können, hatte die Frau einen neuen Verschluss aus Leder und Holz gebastelt.
Schließlich stand sie auf, nahm ihren Karabiner zur Hand und winkte Torsten,
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