Tallinn-Verschwörung
Archiv aufzusuchen. Sie hatte schon die Türklinke in der Hand, als ihr auffiel, dass sie noch T-Shirt und Jeans trug. So sollte sie besser nicht auftreten. Rasch zog sie sich um und war das erste Mal in ihrem Leben froh um den strengen Habit der Malteserinnen, vor allem aber über den schwarzen Mantel mit dem weißen Spitzkreuz des Ordens, der auf seine Art martialisch wirkte.
Graziella schlich aus dem Haus, ohne ihrem Großonkel oder Nora Bescheid zu geben, und machte sich auf den Weg in die geheimen Wissensgrüfte des Vatikans. Als sie kurz darauf das Gelände des Kirchenstaats betrat, wirkte sie in ihrer Tracht wie ein Fisch in einem gemächlich dahinziehenden Schwarm. Hier herrschten schwarze Anzüge vor, und viele der Geistlichen und Würdenträger trugen sogar die Soutane. Dazwischen leuchtete gelegentlich das Weiß eines Ordensmanns oder das Rot eines Kardinals aus der dunkel gekleideten Masse heraus. Es war eine Welt, die so gar nichts mit dem quirligen Rom zu tun hatte, das sich vor den Mauern des Vatikans erstreckte. Die Menschen hier glichen ebenso wie die Schweizer Gardisten in ihren rotgelben Uniformen, den polierten Harnischen und befiederten Helmen Überbleibseln aus einer längst vergangenen Epoche.
Das Archiv des Vatikans war in zwei Abteilungen gegliedert. Im öffentlichen Teil, den man aber auch nur mit Erlaubnis oder auf Einladung betreten konnte, forschten vor allem geistliche Wissenschaftler früheren Zeiten nach, und gelegentlich kamen Journalisten oder Autoren auf der Suche
nach einer aufregenden Story hierher. Auch Graziella hatte hier schon oft für ihr Studium recherchiert oder Informationen für ihren Großonkel zusammengetragen. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie dabei meist Jeans und T-Shirt getragen hatte, und sie hoffte, dem Archivaufseher würde es nicht auffallen, dass sie diesmal als Malteserin auftrat.
Aus diesem Grund drückte sie sich am Schreibtisch des Mannes vorbei und atmete erleichtert auf, als sie den Eingang des geschlossenen Archivs erreichte. Ein junger Mann im schwarzen Priesterrock bewachte die Tür.
»Buongiorno, Signorina«, grüßte er und sah Graziella erwartungsvoll an.
»Ich muss für meinen Großonkel, Kardinal Monteleone, einige Akten einsehen. Er ist über achtzig Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuß, müssen Sie wissen.« Ganz wohl war Graziella bei der Lüge nicht, denn der alte Herr hätte die Behauptung, kaum noch gehen zu können, empört zurückgewiesen.
»Und Sie haben sich jetzt entschlossen, sich mit ganzer Seele der heiligen Kirche zu weihen?«, fragte der Mann mit einem Blick auf ihre Montur.
»Es ist der Wille meines Großonkels«, antwortete sie und überließ es dem Archivar, Schlüsse daraus zu ziehen. »Aber nun zu dem Wunsch des Kardinals. Ich soll für ihn mehrere Akten holen, damit er sie in Ruhe studieren kann.«
»Das wird nicht möglich sein. Sie wissen doch, dass die Akten des geheimen Archivs dieses Gebäude nicht verlassen dürfen. Sie können sich aber in eine der Kabinen setzen und sich ein paar Notizen machen.« Der Archivar wies dabei auf eine Reihe von schlichten Holztüren, die dicht an dicht vom Korridor abgingen. In jede von ihnen war ein kleines Fenster eingelassen. Hinter den meisten war es dunkel, doch aus einigen fiel Licht.
Graziella ärgerte sich über sich selbst, denn in ihrer Anspannung hatte sie ganz vergessen, wie die Übergabe der Akten hier gehandhabt wurde. Es gelang ihr jedoch, eine gleichmütige Miene aufzusetzen.
»So geht es natürlich auch. Wenn Sie mir nun die Akte über Weihbischof Winter besorgen könnten? Mein Großonkel will sich für ihn verwenden, möchte dazu aber mehr über ihn erfahren.« Ein freundliches Lächeln, das ihre Wirkung auf die Männerwelt selten verfehlte, begleitete diese Worte. So war es auch hier. Der Archivar notierte sich den Wunsch und wollte den Raum schon verlassen, um das Verlangte zu holen, als Graziella ihm etwas nachrief.
»Da Sie schon dabei sind, könnten Sie auch schauen, ob es eine Akte über einen Orden oder eine Organisation gibt, die sich Filii Martelli nennt.«
Der Archivar drehte sich erstaunt zu ihr um. »Sie sind schon die Zweite in dieser Woche, die nach den Söhnen des Hammers fragt, Signorina. Don Batista, der Sekretär von Bischof Winter, hat sich die entsprechenden Unterlagen auch schon geben lassen.«
Die Nachricht brachte Graziellas Nerven zum Vibrieren. Sie fragte sich, was dieser unangenehme Sekretär ausgerechnet mit diesen Akten
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