Tallinn-Verschwörung
Unterlagen über Winter und erlitt die gleiche Enttäuschung. Die Akte war mit den Daten identisch, die sie über Computer angefordert hatte. Für den Vatikan war dies äußerst verwunderlich, denn beinahe jeder der Kardinäle, Bischöfe, Prälaten und Priester hatte irgendein Skelett im Schrank, das fein säuberlich aufgeführt wurde, und sei es auch das Skelett einer Zwergmaus. Winter hingegen war ein absolut unbeschriebenes Blatt, bei dem nicht einmal stand, ob er gerne Karten spielte oder Briefmarken sammelte.
Verwirrt blätterte sie die Akten noch einmal durch und hatte plötzlich das Gefühl, als müssten eine oder mehrere Seiten fehlen. Das letzte Wort eines Satzes war nämlich mit Hand an den unteren Rand geschrieben worden. So wie der Text aufgebaut war, hätte es auf dem nächsten Blatt weitergehen müssen. Einmal aufmerksam geworden, entdeckte Graziella weitere Stellen, an denen die Unterlagen offensichtlich manipuliert worden waren.
Die Sache stank, aber das, was sie gefunden hatte, würde wohl noch nicht ausreichen, um ihrem Großonkel die Augen zu öffnen. Dazu benötigte sie schlagkräftigere Argumente. Verärgert, weil sie nichts Handfestes gefunden hatte, das sie dem alten Herrn präsentieren konnte, klappte sie den Ordner zu und verließ die Kammer.
Als sie die Sachen zurückgeben wollte, zuckte sie zusammen.
Neben dem unangenehmen Archivar stand Winters Sekretär und redete leise auf diesen ein. Graziella reichte dem Archivar, den sie um die Akten gebeten hatte, die beiden Mappen und bemühte sich dabei, Don Batista den Rücken zuzuwenden. Zu ihrem Glück schien er so in sein Gespräch vertieft zu sein, dass er nicht auf seine Umgebung achtete. Dennoch atmete Graziella erst auf, als das Archiv hinter ihr lag und sie in den Sonnenschein hinaustreten konnte.
Doch bereits nach wenigen Metern stockte ihr Schritt, denn in ihr glomm eine neue Idee auf. Winters Vorgänger als Oberhaupt der Söhne des Hammers war Kardinal Rocchigiani gewesen. Wohl lag dessen tödlicher Bergunfall nun bereits einige Wochen zurück, aber seine Hausdame lebte noch in seinem Palazzo. Graziella kannte die Frau gut und glaubte, dass diese nichts dagegen haben würde, wenn sie sich dort umsah. Vielleicht fand sie in jenem Haus den Hinweis, den sie so dringend benötigte, um ihren Großonkel zu überzeugen.
DREIUNDZWANZIG
F ür Torsten Renk war es, als käme er aus einer wohnlich eingerichteten Höhle in eine karge, spartanische Welt. Das Apartment, das er betrat, glich in seinen Ausmaßen demjenigen, in dem er nun wohnte. Aber die Einrichtung ließ es fremd erscheinen, denn sie bestand aus einem schmalen Bett, einem kleinen, hohen Tisch mit zwei hölzernen Stühlen, einem halbleeren Bücherbord, einem einfachen Hängeschrank und einem Zweiplattenkocher auf einem winzigen Kühlschrank in der Kochnische. Vor den beiden Fenstern hingen schwarze, lichtundurchlässige Vorhänge und an den
weiß gestrichenen Wänden zwei Bilder mit christlichen Motiven.
Das war kein Raum zum Wohlfühlen, sondern ein Notquartier für ein oder zwei Tage. Selbst das staubige Zeltlager, in dem er in Afghanistan gehaust hatte, erschien ihm im Nachhinein gemütlicher. Er sah sich gründlich um, doch sein geschultes Auge brachte ihm keine neuen Erkenntnisse. Obwohl er mehr oder weniger damit gerechnet hatte, war er enttäuscht.
Zuletzt trat er an das Bücherbord und nahm das vorderste Buch heraus. Es handelte sich um ein Brevier, wie Priester es benützen. Das zweite Buch war eine Bibel, das nächste ein Bericht über die Kreuzzüge von einem ihm unbekannten Autor. Die beiden restlichen Bücher hatten den Abwehrkampf gegen die Türken zum Thema, einschließlich der Belagerungen von Wien. Als Torsten eines der Bücher aufs Geratewohl aufschlug, entdeckte er mehrere handschriftliche Anmerkungen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Als Graffiti irgendwo auf eine Hauswand gemalt, hätte er sie irgendwelchen rechten Wirrköpfen zugeordnet. Sie hier in einem Raum zu entdecken, der förmlich nach Kirche schrie, war äußerst ungewöhnlich.
»Katholische Rechtsradikale? Das wäre mal was Neues.« Torsten lachte bitter und stellte die Bücher so zurück, dass sie genau wie vorher in dem feinen Staubfilm standen. Dann verließ er die Wohnung und schloss ab.
Sein Blick streifte die nächste Tür, und in diesem Moment spürte er die Anspannung, die ihn jedes Mal packte, wenn sich etwas Entscheidendes anbahnte. Es war wie ein sechster Sinn,
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