Tallinn-Verschwörung
über den einige seiner Kameraden schon in widerwilliger Anerkennung gespottet hatten. Torsten erinnerte sich, dass er vor dem Zwischenfall im Sudan, bei dem er Hoikens hatte heraushauen müssen, und später vor einem Raketenbeschuss
der Taliban auf ihr Lager in Shülgareh nervös geworden war und sich instinktiv auf das Ereignis vorbereitet hatte. Jetzt erging es ihm ähnlich.
Die Sphinx AT 2000 S wanderte wie von selbst in seine Hand, und er überzeugte sich, dass sämtliche Patronen geladen waren. Sollte sich etwas Überraschendes ereignen, musste die Gegenseite mit fünfzehn Schuss 9 mm Para-Munition rechnen.
Mit der linken Hand steckte er einen der von Petra angefertigten Schlüssel ins Schloss. Er passte nicht, ebenso wenig wie die nächsten drei. Torstens Nackenmuskeln spannten sich bei dem Gedanken an, diese Tür könnte ein ganz anderes Schloss besitzen als die übrigen. Er hatte von Petra insgesamt neun Schlüssel erhalten. Einer davon gehörte zu Andreas Wohnung, ein weiterer zu dem Priesterquartier, in dem er eben gewesen war. Als auch der fünfte Schlüssel nicht ins Schloss ging, verstärkte sich seine Nervosität. Er musste in diese Wohnung, koste es, was es wolle. Wenn es auf diese Weise nicht ging, dann eben anders. Allerdings würde jede andere Methode Spuren hinterlassen, und das wollte er nicht.
Der sechste Schlüssel. Wenn auch der nicht passte, bliebe nur noch einer. Torsten hielt den Atem an, als das Metall ins Schloss glitt. Er drehte, hörte ein leichtes Knacken und schob die Tür langsam auf. Da die Vorhänge zugezogen waren, fiel von außen kein Licht in die Wohnung. Torstens Hand tastete nach dem Lichtschalter, da ließ ein fast unmerkliches Glimmern dicht über dem Boden ihn innehalten.
Dort musste eine Lichtschranke sitzen. Das war eine aufwendige Sicherung für eine einfache Wohnungstür, allerdings nichts, was Torsten zurückschrecken ließ. In seiner Ausbildung hatte er sich oft genug mit solchen Hindernissen herumschlagen müssen. Er holte die bleistiftdünne Stablampe
aus der Tasche, die zu seiner ständigen Ausrüstung zählte, und machte sich ans Werk. Er benötigte noch einen kleinen Schraubenzieher und zuletzt ein Stück Papier, um zu verhindern, dass der Kontakt des Sicherheitsschalters geschlossen werden konnte. Dann gehörte das Zimmer ihm.
Es war ganz anders eingerichtet als das Priesterzimmer. Ein großer, runder Holztisch, der in den Konferenzraum jedes Industrieunternehmens gepasst hätte, nahm den größten Teil des Wohnzimmers ein. Ihn umgaben sechs wuchtige Ledersessel, auf denen man stundenlange Diskussionen auf einer Hinterbacke absitzen konnte, und in der Küche stand ein großer und, wie Torsten sich überzeugen konnte, wohlgefüllter Kühlschrank, dessen Inhalt auch einem verwöhnten Gaumen gerecht wurde. Das Schlafzimmer war jedoch ebenso spartanisch eingerichtet wie in der Nachbarwohnung.
In einem deckenhohen Regal befanden sich etliche Dutzend Bücher, und Torsten wunderte sich nicht, unter ihnen eine Biographie Osama bin Ladens zu finden, die ebenfalls handschriftliche Kommentare aufwies. Die Notizen zeugten von einem tiefen Hass auf den Terroristenchef und sämtliche Muslime, und der Schreiber drohte diesen Leuten blutige Vergeltung an. Wer auch immer diese Wohnung benutzte, ging zumindest in seinen Gedanken nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der freiheitlichen Ordnung der westlichen Zivilisationen konform.
Das wunderte Torsten kaum, denn es passte zu dem, was er in dem karg eingerichteten Apartment entdeckt hatte, und seine Gedanken glitten weiter zu dem Anschlag in Sendling. Die Sprengung der Moschee mochte ein Racheakt für Terroranschläge muslimischer Splittergruppen gewesen sein, doch er kam zu der Überzeugung, dass die Sache hier in diesem Raum besprochen und geplant worden war.
Torsten war im Zwiespalt. Eigentlich müsste er diesen
Fund so schnell wie möglich dem Verfassungsschutz melden. Aber wie sollte er seinen Kollegen dort erklären, weshalb er ohne Durchsuchungsbefehl in fremde Wohnungen eingedrungen war? Überdies würde er mit diesem Vorgehen Petra Waitl in die Sache hineinziehen, denn die Schlüssel, die er benutzt hatte, regneten nun einmal nicht vom Himmel. Er fragte sich zudem, ob er die Angelegenheit einer Behörde überlassen sollte, die eine Untersuchung nach Schema F durchführen würde und sich wohl kaum überzeugen ließe, dass die Leute, die hier aus und ein gingen, an Andreas Tod schuld sein
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