Tallinn-Verschwörung
gewollt hatte. Da sein Chef das Oberhaupt der Gruppierung war, müsste er eigentlich besser darüber Bescheid wissen als jeder andere.
ZWEIUNDZWANZIG
W ährend Graziella auf die angeforderten Akten wartete, betraten weitere Leute den Vorraum des Archivs. Ein zweiter Archivar erschien, fragte nach den Wünschen der
Neuankömmlinge und forderte anschließend seinen Kollegen über die Sprechanlage auf, die gewünschten Unterlagen mitzubringen.
Als dieser wieder erschien, nahm er ihm alles ab und verteilte die Aktenbündel so, dass Graziella ihre als Letzte erhielt. Der eine Teil bestand aus einem dicken Aktenordner, auf dem Winters Name verzeichnet war, und bei dem anderen handelte es sich um eine dünne Mappe, die keines der gängigen Formate aufwies. Als Graziella sie öffnete, lag ein einzelnes Blatt Pergament darin, beschrieben mit verschnörkelten Buchstaben in Latein.
»Wenn Sie bitte eine der Kabinen aufsuchen würden!« Der zuletzt erschienene Archivar schob Graziella auf eine der Türen zu und öffnete sie.
»Grazie tanto!« Trotz ihrer freundlichen Worte musste Graziella an sich halten, um dem Mann keine Ohrfeige zu verpassen. Sie mochte es nicht, wenn Männer sie gegen ihren Willen berührten. Auch wenn der Archivar ihren Busen und den Hintern gemieden hatte, war eine unterdrückte Erregung zu spüren gewesen. Anscheinend war der Mann nicht fest genug im Glauben. Graziella hätte keinen lumpigen Cent dagegen gewettet, dass er zu jenen Kirchenleuten gehörte, die in der Nacht in einfache Anzüge gekleidet die kleinen, diskret eingerichteten Bordelle aufsuchten, die den Vatikan wie eine Perlenkette umgaben.
Erst als sich die Tür der Kammer hinter ihr geschlossen hatte, entspannte sie sich wieder. Der Raum maß nur zwei Meter auf anderthalb, hatte kahle, weiße Wände und war mit einem einfachen Tisch und einem hölzernen, nicht sonderlich bequemen Stuhl möbliert, so als wäre den päpstlichen Behörden daran gelegen, die Zeit für Nachforschungen in ihren Archiven so kurz wie möglich zu halten.
Die Leuchtstoffröhre an der Decke spendete nicht genug
Helligkeit. Daher gab es eine Leselampe, die einen Kegel bläulich schimmernden Lichts warf, welches den Text der teilweise uralten Schriftrollen erkennen ließ, ohne dem oft brüchigen Pergament und den Papyrusblättern Schaden zuzufügen.
Graziella begann mit dem Bericht über die Söhne des Hammers. Der Inhalt des Blattes war enttäuschend knapp und schien auch nicht so ganz zu den Informationen zu passen, die sie in den Datenbanken gefunden hatte. Im Jahre des Herrn 1234 hätten sich mehrere Ritter aus Süddeutschland und Norditalien zusammengefunden, um einen neuen Kriegerorden zu gründen. Papst Gregor IX. hatte ihnen jedoch die Zulassung verwehrt, da der von ihnen erwählte Patron Carlo Martello wegen einiger Vorkommnisse während seiner Herrschaft als Majordomo des Fränkischen Reiches als Anhänger des Antichrist galt, und sie aufgefordert, sich den bereits bestehenden Ritterorden der Templer, Johanniter oder dem Deutschen Orden anzuschließen. Es wurde mit keinem Wort erwähnt, ob diese Gruppe schon früher existiert und auch die Jahrhunderte danach überdauert haben konnte, wie sie den Gesprächen zwischen ihrem Großonkel und Weihbischof Winter entnommen hatte.
Als Graziella die Mappe wieder schließen wollte, stutzte sie und starrte das Pergament mit zusammengekniffenen Augen an. Es war alt, aber sie hatte den Eindruck, an einigen Stellen, an denen der Text mit dicker Tinte aufgetragen worden war, relativ frische Schabspuren erkennen zu können. Wenn das stimmte, war der Akteneintrag keine achthundert Jahre alt, sondern sehr viel jünger, und ihn hatte wahrscheinlich auch nicht der Geistliche aus dem dreizehnten Jahrhundert geschrieben, der als Autor verzeichnet war. Ohne Hilfsmittel konnte sie das allerdings nicht sicher feststellen, und sie überlegte, ob sie es wagen sollte, das Dokument aus dem Archiv zu schmuggeln.
Ein Blick durch das kleine Fenster zeigte ihr jedoch, dass die beiden Archivare die Unterlagen, die ihnen zurückgereicht wurden, genau kontrollierten. Also würde sie sich mit dem bloßen Verdacht begnügen müssen, und der richtete sich gegen Don Batista, Winters Sekretär. In ihren Augen war Winter geisteskrank, und sie hoffte, ihren Großonkel von Winters Unzurechnungsfähigkeit überzeugen zu können, so dass der Kardinal eine Untersuchung einleitete.
Mit dieser Überlegung machte sie sich an das Studium der
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