Tallinn-Verschwörung
mussten. Er aber konnte sich nun vorstellen, wie seine Freundin in der bewussten Nacht von ihrem Dienst in der Klinik heimgekommen, auf die Unbekannten gestoßen und von ihnen als überflüssige Zeugin beseitigt worden war.
VIERUNDZWANZIG.
G raziella wurde von Kardinal Rocchigianis Hausdame in der Via Alessandro III. in Rom mit einer Miene empfangen, mit der ein Ertrinkender den rettenden Strohhalm begrüßt. Die Frau war bereits über siebzig, aber so quicklebendig, dass Graziella sich im Vergleich zu ihr fast alt vorkam. Ehe sie sich versah, saß sie im Salon des Kardinals, hielt ein Glas frisch aufgeschäumten Caffè Latte in der Hand und sah ein riesiges Stück Kuchen vor sich stehen, das in Schokoladensoße badete.
Zum Reden oder gar dazu, ihre Wünsche zu äußern, kam sie zunächst gar nicht, da die Hausdame die Schleusen ihrer Beredsamkeit weit öffnete und zuerst einmal ihren Kardinal über alle Heiligen erhob. Dann beklagte die alte Dame wortreich
seinen Tod und schimpfte schließlich über die Retter der Bergwacht, die ihn nicht rechtzeitig gefunden hatten.
»Du kannst gar nicht glauben, wie traurig das alles ist, Kind, jetzt, wo Seine Eminenz bei unserem lieben Jesuskind im Himmel weilt«, sagte sie und holte tatsächlich einmal Luft, bevor sie weitersprach.
»Auf jeden Fall war es eine ergreifende Feier und meine Eminenz wurde auf dem Platz beerdigt, den er sich gewünscht hatte. Aber die Leute lassen ja nicht einmal einen Toten in Ruhe. Dieser unangenehme Mensch hat schon drei Mal nachgefragt, wann er den schriftlichen Nachlass Seiner Eminenz übernehmen könne. Aber ich habe ihm gesagt, dass er mir ohne einen Auftrag des Heiligen Vaters nicht ins Haus kommt. Er würde sich darum bemühen, sagte er, denn er sei von der Kurie mit der Sichtung aller Papiere beauftragt worden, die Seine Eminenz hinterlassen hätte, und ich solle mir nicht einfallen lassen, etwas davon jemand anderem zu übergeben als ihm.«
Da sie das Aussehen des betreffenden Mannes sehr ausschweifend beschrieb, begriff Graziella, dass es sich um jenen Archivar gehandelt haben musste, den sie vorhin im Gespräch mit dem Sekretär des Weihbischofs Winter beobachtet hatte.
Das erschien ihr höchst verdächtig, denn normalerweise kümmerten sich hochrangige Mitarbeiter eines verstorbenen Kirchenmanns um dessen Nachlass. Noch seltsamer aber war die Forderung, Rocchigianis Aufzeichnungen niemand anderem zu überlassen. Hätte der Mann wirklich auf Befehl des Vatikans gehandelt, müsste er sich nicht um einen schriftlichen Auftrag bemühen. Wahrscheinlich würde dieser ebenso gefälscht werden wie die Aufzeichnungen über die Söhne des Hammers, sagte Graziella sich und ließ ihren Blick durch den Salon streifen.
Im Gegensatz zu der steif wirkenden Einrichtung im Haus ihres Großonkels herrschte in dieser Villa eine wohltuende Harmonie zwischen dem barock anmutenden Wandschmuck aus Stuck mit kleinen, dickwangigen Putten, die auf Flöten spielten, und den zierlichen Möbeln aus jener Zeit höfischer Galanterie, die man Rokoko nannte. Der Stuhl, auf dem Graziella saß, hätte mit seiner mit Damast überzogenen Sitzfläche und den elegant geschwungenen Beinen jeden Antiquitätenhändler entzückt, ebenso wie das dazu passende Tischchen, auf dem sie jetzt ihr Glas abstellte, um den Kuchenteller in die Hand zu nehmen.
»Die Leute sind heutzutage wirklich schlimm«, stimmte sie der Signorina zu, die trotz ihres Alters fuchsteufelswild werden konnte, wenn jemand sie Signora nannte. Dann blickte sie sie bittend an. »Dürfte ich mir vielleicht die Aufzeichnungen Seiner Eminenz ansehen? Wie Sie wissen, war mein Großonkel sein bester Freund.«
Die Hausdame lachte leise auf. »Und ob ich das weiß! Die beiden haben oft hier in diesem Raum zusammengesessen und bei ihren Gesprächen Gott und die Welt vergessen. Na ja, Gott sicher nicht, aber die Welt ganz bestimmt.« Sie überlegte kurz und nickte schließlich.
»Warum nicht? Du wirst die Papiere meiner lieben Eminenz mit der Ehrfurcht behandeln, die ihnen gebührt, und sie nicht in einen dunklen Winkel stecken, in dem sie von Ratten und Mäusen gefressen werden können. Wenn da wirklich einer vom Vatikanischen Archiv kommt und die Sachen holen will, muss er mit dem vorliebnehmen, was noch da ist.«
Die Frau schien keine Ahnung von der Beschaffenheit des päpstlichen Archivs zu haben, denn eines war für Graziella gewiss: Vor Ratten und Mäusen bewahrten die Archivare des Papstes die ihnen
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