Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
deines Lebens? Es war zu gefährlich, die Versuchung zu nah. Als ich meine Ausbildung begann, war ich fast so alt wie du jetzt und keine Jungfrau mehr. Gib dich keinen Irrtümern hin, die Verlockungen des Fleisches sind stark, und wir alle verspüren sie. Sobald ein Zauberer sein erstes Leben hinter sich lässt und die Macht in sich fühlt, wird es einfacher zu ertragen. Im Vergleich dazu verblassen fleischliche Freuden, das verspreche ich dir.«
»Ich werde mich ihr verweigern, Iya.«
»Du wirst tun, was immer du tun wirst, mein lieber Junge.« Sie ergriff seine Hände und sah ihm ins Gesicht; ihre Haut war kalt wie Elfenbein. »Es gibt noch so vieles, was ich gehofft hatte, dir beizubringen. Vor Afra dachte ich, wir hätten noch den Rest meines Lebens gemeinsam. Du bist mein Nachfolger, Arkoniel, und der beste Schüler, den ich je hatte. Das wissen wir seit geraumer Zeit, Illior und ich.« Sie klopfte auf den Beutel, der über ihre Schulter hing. »Aber vorerst hat Illior andere Pläne für dich, wie wir beide gesehen haben. Vorläufig musst du lernen, was du kannst, und das Beste daraus machen. Wenn Lhel dir etwas beibringen kann, dann lerne von ihr. Abgesehen von allem anderen musst du sie im Auge behalten und herausfinden, ob sie womöglich böse Absichten gegenüber dem Kind hegt.«
»Diese Antwort ist keine Antwort!«, stöhnte Arkoniel, verwirrter denn je zuvor.
Iya zuckte mit den Schultern. »Du bist kein Kind oder Lehrling mehr. Es kommt eine Zeit, da muss ein Zauberer lernen, seinem Herzen zu vertrauen. Genau das machst du seit einiger Zeit, wenngleich du es selbst noch nicht bemerkt zu haben scheinst.« Lächelnd klopfte sie ihm auf die Brust. »Hör auf dies hier, mein lieber Junge. Ich halte es für einen guten, aufrichtigen Führer.«
Arkoniel verspürte den plötzlichen, frostigen Anflug einer Vorahnung. »Das hört sich fast wie ein Abschied an.«
Iya lächelte traurig. »So ist es, aber nur ein Abschied von dem Jungen, der mein Schüler war. Der Mann, der seinen Platz eingenommen hat, braucht nicht zu fürchten, mich zu verlieren. Dafür mag ich ihn zu sehr, und uns steht gemeinsam noch eine Menge Arbeit bevor.«
»Aber …« Arkoniel suchte nach Worten. »Wie werde ich wissen, was richtig ist, um Tobin zu helfen und ihn zu beschützen?«
»Glaubst du, Illior hätte dich hierher geschickt, wenn du der Aufgabe nicht würdig wärst? Na also. Willst du eine alte Frau die ganze Nacht im Freien lassen oder können wir jetzt hineingehen?«
»Eine alte Frau, wie? Wann hat sich das ereignet?«, fragte Arkoniel und schlang den Arm durch den ihren, als sie den Hügel erklommen.
»Das habe ich mich selbst schon gefragt.«
»Wie lange kannst du bleiben?«
»Nach dem Empfang des Dämons zu urteilen, nicht lange. Wie hat er dich behandelt, seit er dir den Arm gebrochen hat?«
»Überraschend gut. Gelegentlich wirbelt er die Einrichtung umher, aber Tobin scheint eine gewisser Herrschaft über ihn zu haben. Laut Nari geht es seit Arianis Tod wesentlich ruhiger zu.«
»Äußerst merkwürdig. Eigentlich sollte man genau das Gegenteil erwarten. In all meinen Jahren als Zauberin, Arkoniel, ist mir noch nie ein Geist wie dieser untergekommen. Da fragt man sich …«
»Was?«
»Ob er uns erneut überraschen wird, wenn wir versuchen, seine Verbindung mit Tobin zu kappen.«
Sie kehrten zur Feste zurück und beschlossen, dass Iya für die Nacht das Zimmer mit Arkoniel teilen sollte. Sobald sie jedoch die Halle betraten, spürten sie, wie die böswillige Gegenwart des Dämons sie umfing. Die Luft verdichtete sich merklich, das Feuer im Kamin flackerte und verblasste.
Nari und die anderen, um den Kamin versammelten Mitglieder des Haushalts schauten erschrocken auf.
»Vorsichtig, Iya. Niemand vermag zu sagen, was er tun wird«, warnte Tharin.
Die drückende Last der Stille breitete sich aus, dann hörten sie, wie etwas am gegenüberliegenden Ende des Raumes in der Nähe des hohen Tisches geräuschvoll zu Boden fiel. Ein weiteres Klirren folgte, und Iya warf ein Licht in die Luft, das den Raum ausreichend erhellte, um zu erkennen, wie ein Silberteller von den Ablagefächern der Anrichte geschleudert wurde. Nacheinander glitten weitere Teller und Schalen mit einem Knall oder Klirren auf den Binsenbelag. Jeder Gegenstand bewegte sich von selbst, aber Arkoniel konnte sich mühelos das wilde, verdrossene Kind vorstellen, dem er am Fuß der Weide begegnet war, wie es sie über die Schulter beobachtete und
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