Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Abend erinnerte es an eine Gruft.
»Bist du das, Iya?«, rief eine tiefe Stimme. Rhius kam die Treppe herab, um sie zu begrüßen. Mittlerweile war er fast vierzig, ein gut aussehender, stämmig gebauter Krieger mit Armen und Händen gezeichnet von einem Leben, das er damit verbracht hatte, ein Schwert oder Zügel zu umklammern. An jenem Abend jedoch wirkte seine Haut unter dem schwarzen Bart blass, und sein kurzer Kittel war schweißgetränkt, als ob er gerannt wäre oder gekämpft hätte. Er mochte ein Krieger sein, dennoch stank er nach Angst.
Er starrte Lhel an, woraufhin seine Schultern herabsackten. »Du hast eine gefunden.«
Iya reichte dem Verwalter ihren Mantel. »Selbstverständlich, Herr.«
Von oben ertönte ein abgehackter Schrei. Rhius fuhr sich unwillkürlich mit der geballten Faust ans Herz. »Die Kräuter zum Auslösen der Wehen waren nicht notwendig. Ihr Wasser hat sich heute Vormittag ergossen. Seit Sonnenuntergang ist sie so. Sie bettelt mich ununterbrochen um ihre eigenen Frauen an …«
Lhel murmelte Iya etwas zu. Iya übersetzte die Frage für den Herzog. »Sie möchte wissen, ob Eure Gemahlin irgendwelche Blutungen hat.«
»Nein. Die Frau, die du geschickt hast, behauptet, dass alles in Ordnung ist, aber …«
Oben schrie Ariani abermals auf, und Arkoniel drehte sich der Magen um. Die arme Frau hatte keine Ahnung, wer sich in dieser Nacht in ihrem Haus aufhielt. Iya hatte dem Paar den feierlichen Eid geschworen, jedwede Tochter zu beschützen, die dem Königshaus geboren würde; allerdings hatte sie der Kindesmutter nicht offenbart, welche Mittel ihr der Lichtträger dafür eingeräumt hatte. Nur Rhius wusste es. Blanker Ehrgeiz hatte den Ausschlag für seine Einwilligung gegeben.
»Kommt, es ist Zeit.« Iya setzte sich in Richtung der Treppe in Bewegung, doch Rhius hielt sie am Arm zurück.
»Bist du sicher, dass es die einzige Möglichkeit ist? Könntest du nicht eines der beiden fortbringen?«
Iya musterte ihn mit kaltem Blick. Sie stand zwei Stufen über ihm, und im vorherrschenden Licht erinnerte sie einen Augenblick lang an ein Bildnis aus Stein. »Der Lichtträger will eine Königin. Ihr wollt, dass Euer Kind herrscht. Das ist der Preis dafür. Uns ist hierbei die Gunst Illiors gewiss.«
Rhius ließ sie los und seufzte schwer. »Dann lasst es uns hinter uns bringen.« Rhius folgte den beiden Frauen hinauf, und Arkoniel folgte ihm, dicht genug, um zu hören, wie der Herzog murmelte: »Es wird andere Kinder geben.«
Die Luft in Prinzessin Arianis Schlafgemach erwies sich als stickig. Die anderen traten ans Bett, Arkoniel hingegen blieb unmittelbar am Eingang stehen, überwältigt vom durchdringenden Geruch der Niederkunftskammer.
Diesen Teil des Hauses hatte er noch nie gesehen. Unter anderen Umständen hätte er das Zimmer als hübsch empfunden. Sowohl die Wände als auch das geschnitzte Bett zierten bunte Behänge, bestickt mit ausufernden Unterwassermotiven, und in den Kaminsims aus Marmor waren Delfine gemeißelt. Auf einem Stuhl neben dem Fenster, dessen Läden geschlossen waren, stand ein vertrauter Handarbeitskorb; ein Stoffkopf und ein Arm lugten unter dem halb geöffneten Deckel hervor – eine der Puppen der Prinzessin, noch unvollendet. Ariani war berühmt für ihr meisterliches Geschick, und alle hehren Damen in Ero, sogar einige der Fürsten besaßen eine ihrer Puppen.
In jener Nacht krampfte sich beim Anblick dieser Puppe Arkoniels Magen zusammen.
Durch die halb offenen Bettvorhänge sah er die Wölbung von Arianis Bauch und eine zur Faust geballte Hand, an der kostspielige Ringe funkelten. Ein pummeliges Dienstmädchen mit lieblichen Zügen stand über Ariani gebeugt und murmelte ihr zu, während sie ihr das Gesicht abwusch. Dies war Nari, eine verwitwete Angehörige Iyas, die zur Amme des Kindes auserkoren worden war. Ursprünglich wollte Iya, dass Nari ihr eigenes Kind als Gefährte für jenes Arianis mitbringen sollte, doch die Götter hatten andere Pläne gehabt. Naris Kind war vor wenigen Wochen einer Lungenentzündung erlegen. Trotz ihrer Trauer hatte Nari pflichtbewusst die Milch aus ihren Brüsten gepresst, damit sie nicht versiegte. Die Vorderseite ihres losen Kleids wies Flecken davon auf.
Lhel machte sich an die Arbeit und erteilte leise Anweisungen, während sie am Ende des Bettes die Dinge zurechtlegte, die sie brauchen würde: Kräuterbüschel, ein schmales Silbermesser, Knochennadeln und eine Spule Seidenfaden, unvorstellbar fein.
Arianis
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