Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
hinfortreißen, und er wäre verloren. Es schien einfacher, sich wieder in die betäubende Stille zurückzuziehen, die ihn so lange beschützt hatte. Er stellte sich vor, wie die Trauer in ihn floss wie flüssige Finsternis, seine Lungen füllte, sich in seine Glieder und in seinen Kopf ausbreitete, bis er selbst nur noch einem schwarzen Schemen glich.
»Das kein guter Weg, Keesa .«
Tobin schaute zur Tür hinüber und erblickte dort Lhel. Mittlerweile graute der Morgen.
Sie gab ihm ein Zeichen, dann verschwand sie in Richtung der Treppe. Er eilte hinter ihr her, erhaschte aber nur noch einen Blick auf ihren zerlumpten Rock, als sie zur Tür der großen Halle hinaushuschte. Fürst Orun schnarchte laut hinter den Vorhängen seines Bettes. Tobin hastete durch das offene Tor und sah gerade noch, wie Lhel jenseits der Brücke in den Wald verschwand.
»Warte!«, rief er, dann schlug er sich erschrocken die Hand auf den Mund. Die taufeuchte Weide unterhalb der Feste war übersät mit Oruns Begleitgarde.
Am Vortag hatte er gedacht, sie bestünde nur aus etwa vierzig Männern, doch nun schienen es mindestens hundert zu sein. Ein paar Wachen hatten sich um das morgendliche Kochfeuer geschart, aber niemand bemerkte ihn, als er barfuß in den Wald lief.
Kaum hatte er den Schutz der Bäume erreicht, begriff er. Dies war nicht der echte Wald, sondern jener, in den er nach dem Tod seiner Mutter so oft in Visionen geraten war.
Diesmal brauchte er Bruder nicht als Führer. Er fand den Flusspfad mühelos und folgte ihm zu der Lichtung, wo die beiden arglosen Rehe neben dem Loch in der Erde grasten. Als er sich diesmal durch die Öffnung schob, fand er sich in Lhels Eiche wieder.
Die Hexe und seine Mutter saßen am Feuer. Seine Mutter stillte einen Säugling an der Brust. Lhel hielt statt des Kaninchens die Lumpenpuppe auf dem Schoß.
»Das ist ein Sehentraum, Keesa «, erklärte ihm Lhel.
»Ich weiß.«
Lhel reichte ihm die Puppe und schwenkte einen Finger vor ihm. »Tu ihn nicht vergessen.«
»Das werde ich nicht!« Worüber sonst hatte er sich die ganze Nacht den Kopf zerbrochen?
Seine Mutter schaute von dem Säugling auf. Ihre blauen Augen wirkten klar und ungetrübt, aber voller Traurigkeit. »Ich will auch dorthin, Tobin. Lass mich nicht im Turm zurück!« Sie hob das Kind an. »Er wird es dir zeigen.«
Lhel zuckte zusammen, als wäre sie überrascht, seine Mutter dort vorzufinden. » Keesa kann sich darüber nicht sorgen. Geh weg!«
Ariani und der Säugling verschwanden, und Lhel zog Tobin neben sich auf die Pritsche. »Du dir machst keine Gedanken über sie. Das nicht ist deine Bürde jetzt. Du auf dich aufpasst und auf Bruder. Und auf Ki.«
Sie warf eine Handvoll Kräuter und Knochen in das Feuer und begutachtete das Muster der Flammen. »Dieser haarlose Mann? Ich ihn nicht mag, aber du musst gehen. Ich sehe deine Pfad. Er dich führt in die stinkende Stadt von König. Du diesen König noch nicht kennst. Du nicht kennst sein Herz.« Sie streute weitere Kräuter hinterher und wiegte sich mit zu Schlitzen verengten Augen langsam vor und zurück. Dann seufzte und beugte sich dicht zu Tobin, bis er ihr Gesicht deutlich erkennen konnte. »Du siehst Blut? Sag es niemand. Niemand.«
»Wie bei der Puppe.« Tobin dachte daran, dass er das Geheimnis Ki um ein Haar offenbart hätte.
Lhel nickte. »Du deinen Freund liebst, du ihm nichts sagst. Du siehst Blut, du kommst her zu mir.«
»Welches Blut, Lhel? Ich bin ein Krieger. Ich werde Blut sehen!«
»Vielleicht wirst du, vielleicht nicht. Aber wenn – « Sie legte ihm einen Fingers aufs Herz. »Du weißt, wo dieser Ort. Und du kommst zu Lhel.«
Diesmal stupste sie ihm in die Brust, und er erwachte in seinem eigenen Bett in stickiger Hitze. Ki schnarchte leise neben ihm.
Tobin drehte sich auf die Seite und grübelte über den Traum nach. Er konnte immer noch Lhels Finger auf der Brust und die weichen Felle spüren, auf denen er gelegen hatte. Ein Sehentraum, hatte Lhel gesagt.
Während er überlegte, ob er Arkoniel aufsuchen und ihn fragen sollte, ob es eine Vision oder bloß ein gewöhnlicher Traum gewesen war, schlief er wieder ein.
T EIL D REI
Aus den Memoiren von Königin Tamír II.
Ero.
Wenn ich jetzt an die Stadt zurückdenke, überlagert den echten Ort, den ich so kurz gekannt, das Bild des schlichten Modells, das mein Vater für mich gebaut hat. In meinen Träumen bevölkern Holzmännchen, Tonschafe und Wachsgänse die gewundenen Straßen.
Weitere Kostenlose Bücher