Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
auf einer Kiste mit eckigen Rädern. Der alte Majyer hier und dein Gosi sind richtige Reitpferde.«
»Warum darf ich nie nach Atyion?«, verlangte Tobin – nicht zum ersten Mal – zu erfahren.
Die Antwort fiel oft unterschiedlich aus. An jenem Tag lächelte sein Vater nur und erwiderte: »Das wirst du eines Tages.«
Tobin seufzte. Aber da er nun alt genug war, sein eigenes Pferd zu reiten, würde ›eines Tages‹ vielleicht schon bald sein?
Der Ritt in die Stadt erwies sich als wesentlich kürzer, als Tobin ihn sich vorgestellt hatte. Die Sonne hatte sich kaum zwei Stunden über den Himmel bewegt, als sie an den ersten Hütten neben der Straße vorbeikamen.
Die Bäume, vorwiegend Eichen und Espen, wuchsen lichter, und Tobin sah Schweineherden, die im Mast unter ihren Ästen schnüffelten. Etwa eine Meile weiter wich der Wald offenem Weideland, auf dem Herden von Schafen und Ziegen unter den wachsamen Augen von Hirten, kaum älter als Tobin, grasten. Die Hirten winkten ihm zu, und er erwiderte die Geste verhalten.
Bald begegneten sie auf der Straße mehr Menschen, die von Ziegen oder Ochsen gezogene Karren fuhren oder Lasten in langen Körben auf den Rücken trugen. Drei junge Mädchen in kurzen, schmutzigen Hängekleidern starrten Tobin an, als er an ihnen vorbeiritt, dann tuschelten sie hinter vorgehaltenen Händen miteinander, während sie ihm nachschauten.
»Geht nach Hause zu euren Müttern«, knurrte Tharin in einem Tonfall, den Tobin noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Die Mädchen zuckten wie erschrockene Kaninchen zusammen und flüchteten über den Graben, doch Tobin hörte in ihrem Gefolge Gelächter.
Aus den Hügeln herab wand sich ein Fluss auf die Stadt zu, und die Straße beschrieb eine Biegung, um seinem Ufer nach Alestun zu folgen. In breiten Streifen angelegte Felder umgaben die Ortschaft. Einige schienen bereits für den Frühling bestellt, auf anderen standen noch gelbe und braune Herbststoppel.
Sein Vater deutete auf eine Gruppe von Leuten, die auf einem Gerstenfeld arbeiteten und die letzten Garben des Herbstes ernteten. »Wir haben hier Glück. In anderen Gegenden des Landes hat die Seuche so viele Menschen getötet, dass die Felder mangels Arbeitern verkommen sind. Und diejenigen, die nicht an der Krankheit sterben, verhungern.«
Tobin wusste, was eine Seuche war. Er hatte die Männer auf dem Kasernenhof darüber reden gehört, als sie dachten, er könnte sie nicht vernehmen. Durch die Seuche begann die Haut zu bluten, und man bekam schwarze Knoten unter den Armen. Er war froh, dass sie sich nicht hierher ausgebreitet hatte.
Als sie sich der Holzpalisade der Stadt näherten, hatte Tobin vor Aufregung bereits große Augen. Immer mehr Menschen tauchten auf, und er winkte ihnen allen zu, verzückt darüber, so viele Leute auf einmal zu sehen. Die meisten winkten zurück und begrüßten seinen Vater respektvoll, aber einige starrten ihn an wie zuvor die Mädchen auf der Straße.
Unmittelbar außerhalb der Palisade stand am Flussufer eine Mühle. Daneben wuchs eine mächtige Eiche voller Kinder, Mädchen und Jungen, die auf langen, an die Äste des Baumes geknüpften Seilen über dem Wasser schaukelten.
»Werden die gehängt?«, fragte Tobin atemlos, als sie vorbeiritten. Er hatte von solchen Bestrafungen gehört, sie sich jedoch ganz anders vorgestellt. Die Kinder schienen Spaß zu haben.
Sein Vater lachte. »Nein, sie spielen Schaukeln.«
»Könnte ich das auch?«
Die beiden Männer vor ihm wechselten einen eigenartigen Blick, den Tobin nicht recht zu deuten wusste.
»Möchtest du das denn?«, fragte Tharin.
Tobin schaute zu den lachenden Kindern zurück, die wie Eichhörnchen durch die Äste kletterten. »Vielleicht.«
Am Tor trat ein mit einer Pike bewaffneter Soldat vor, verneigte sich vor seinem Vater und legte eine Hand aufs Herz. »Guten Tag, Herzog Rhius.«
»Guten Tag, Lika.«
»Sagt, dieser prächtige junge Bursche ist nicht zufällig Euer Sohn, oder?«
»Und ob er das ist. Er kommt endlich die Stadt besuchen.«
Tobin richtete sich im Sattel ein wenig gerader auf.
»Willkommen, junger Prinz«, sagte Lika und verneigte sich vor Tobin. »Kommt Ihr, um die Freuden der Stadt zu betrachten? Heute ist Markttag, da gibt es jede Menge zu sehen.«
»Es ist mein Namenstag«, verriet Tobin scheu.
»Dann seid gesegnet, bei den Vieren!«
Alestun war nur eine kleine Marktgemeinde, doch Tobin erschien sie als riesige Stadt. Niedrige Hütten mit Reetdächern
Weitere Kostenlose Bücher