Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
ein Freudenmädchen und dessen Freier zu schaffen.
Die Schänken hatten geöffnet, und es befanden sich noch zahlreiche Menschen auf den Straßen, aber niemand wagte sich auf die Plattform. Brennende Fackeln waren dort zurückgelassen worden. Arkoniel konnte die in der nächtlichen Brise schwingenden Leichname am Galgen erkennen. Die Gestelle jedoch waren verschwunden.
»Sollen wir hingehen und nachsehen, ob wir etwas in Erfahrung bringen können?«
»Nein.« Hastig zog Iya ihn weg. »Das ist zu gefährlich. Sie könnten den Ort beobachten.«
Nachdem sie sich durch die dunkelsten Gassen aus der Stadt geschlichen hatten, ritten sie zurück zu dem Hain und holten ihre Habseligkeiten. Als Arkoniel nach den Amuletten griff, schüttelte Iya den Kopf. Sie ließen sie dort und ritten wortlos weiter, bis die Ortschaft weit hinter ihnen lag.
»Acht Zauberer waren dazu in der Lage, Arkoniel, bloß acht!«, platzte es letztlich aus Iya hervor, wobei ihre Stimme vor Wut zitterte. »Und wir hätten nichts gegen sie zu unternehmen vermocht. Allmählich sehe ich klarer. Die Dritten Orëska, die mir das Orakel in meiner Vision offenbart hat – es war ein mächtiger Bund von Zauberern in einem glänzenden Palast, der ihnen allein gehörte, mitten in einer großen Stadt. Wenn acht genügen, um ein solches Übel zu vollbringen, wie wir es heute bezeugt haben, was könnten dann einhundert zum Besseren bewirken? Und wer könnte sich gegen uns stellen?«
»Wie im Großen Krieg«, meinte Arkoniel.
Iya schüttelte den Kopf. »Jene Vereinigung währte nur für die Dauer des Krieges und wurde im Angesicht entsetzlicher Streitigkeiten und Unruhen geschlossen. Denk nur, was wir in Frieden und mit genug Zeit zum Arbeiten erreichen könnten! Stell es dir vor – das Wissen, das du und ich im Zuge unserer Reisen gesammelt haben, vereint mit jenem hundert anderer Zauberer. Und was das für Virishans arme Kinder verhieße! Sie würden eher gerettet und an einem solchen Ort großgezogen, mit Dutzenden von Lehrern statt nur einem und mehreren Bibliotheken, die sie nutzen könnten.«
»Aber stattdessen wird dieselbe Macht eingesetzt, um uns untereinander zu spalten.«
Mit im Sternenlicht unlesbaren Zügen starrte Iya in die Ferne. »Hungersnot. Seuchen. Beutefahrer. Und jetzt das. Manchmal, Arkoniel, erscheint mir Skala wie ein Opferbulle zur Sakor-Tide. Aber statt mit einem sauberen Schwertstreich getötet zu werden, wird immer wieder mit kleinen Messern darauf eingestochen, bis es schwach wird und auf die Knie sinkt.« Mit grimmiger Miene drehte sie sich Arkoniel zu. »Und unmittelbar jenseits des Wassers liegt Plenimar und wittert Blut wie ein Wolf.«
»Es ist fast so, als hätte Niryn dieselbe Vision gehabt, sie aber auf den Kopf gestellt«, murmelte Arkoniel. »Warum würde der Lichtträger so etwas tun?«
»Du hast den Priester auf dem Galgen gesehen, mein Junge. Glaubst du, es ist wirklich Illior, der ihn leitet?«
K APITEL 12
Der Frühling ging in den Sommer über, und die Weide unterhalb der Feste strotzte vor Gänseblümchen und Lorbeerbüschen. Tobin sehnte sich danach, auszureiten, aber Mynir kränkelte, und sonst war niemand übrig, um ihn zu begleiten. Also musste er sich mit Spaziergängen mit Nari begnügen.
Mittlerweile war er zu alt, um sich damit zufriedenzugeben, unter den wachsamen Augen der Frauen in der Küche zu spielen. Doch Nari ließ ihn nur dann hinaus auf den Kasernenhof, um zu üben, wenn einer der Bediensteten Zeit hatte, mit ihm zu gehen. Köchin war die Einzige im Haus, die etwas vom Schießen oder Schwertkampf verstand, und sie war zu alt und zu beleibt, um ihm mehr als Ratschläge bieten zu können.
Zwar hatte er immer noch Pergament und Tinte von seiner Mutter, doch sie beschworen zu viele dunkle Erinnerungen herauf. Er begann, mehr Zeit damit zu verbringen, sich in der Kammer im dritten Stockwerk einzuschließen, nur mit der Puppe und dem Dämon als Gesellschaft. Manchmal schnitzte er mit dem scharfen, kleinen Messer, das Koni ihm geschenkt hatte, wofür er Klötze aus weicher Kiefer und Zeder verwendete, die er vom Feuerholzstapel entwendete. Das Holz duftete unter seinen Händen und schien für seine Klinge Formen zum Entdecken bereitzuhalten. Während er darin aufging, sich zu überlegen, wie er dem Klotz ein Bein, eine Flosse oder ein Ohr entlocken könnte, vergaß er eine Weile, wie einsam er sich fühlte.
Oft jedoch saß er mit der Puppe auf dem Schoß da wie früher seine Mutter und
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