Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
fragte sich, was er mit ihr tun sollte. Sie war nicht nützlich wie ein Schwert oder ein Bogen. Ihr blankes Gesicht machte ihn traurig. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter mit der Puppe geredet hatte, doch er konnte nicht einmal das, denn seine Stimme hatte sich noch nicht wieder eingestellt. Er saß nur da und drückte die Finger in die ausgestopften Glieder, um die geheimnisvollen Klumpen und scharfkantigen Teile darin zu ertasten, doch ihm wollte nicht einfallen, weshalb seine Mutter ihm dieses seltsame, missgestaltete Spielzeug gegeben hatte. Nichtsdestotrotz klammerte er sich an die greifbare Wirklichkeit der Puppe und den Gedanken, dass seine Mutter ihn zuletzt doch ein wenig geliebt hatte.
Jemand hatte die Tür zum Turm durch eine solide neue ersetzt, worüber Tobin froh war, ohne zu wissen, warum. Wann immer er sich nach oben begab, vergewisserte er sich, dass er sie fest hinter sich verriegelte.
Als er eines Tages davor stand, beschlich ihn das höchst merkwürdige Gefühl, seine Mutter befände sich auf der anderen Seite und starre ihn durch das Holz an. Der Gedanke sandte einen Schauder der Sehnsucht und Furcht durch ihn. Jenes Hirngespinst wurde mit jedem Tag ausgeprägter, bis er überzeugt davon war, im Turm hören zu können, wie sie mit hinter ihr herraschelnden Röcken die Steinstufen auf und ab lief oder wie ihre Hände auf der Suche nach dem Riegel über das Holz der Tür glitten. Er versuchte angestrengt, sie sich freundlich und glücklich auszumalen, häufiger jedoch schien sie ihm wütend zu sein.
Diese dunklere Vision wurzelte und erblühte in seiner Vorstellung wie ein Nachtschattengewächs. Eines Nachts träumte er, dass sie unter der Tür hervorgriff und ihn wie einen Bogen Pergament darunter auf ihre Seite zog. Auch der Dämon war dabei, und zusammen schleiften sie ihn die Treppe hinauf zum offenen, auf die Berge weisenden Fenster, um …
Wild um sich schlagend, erwachte er in Naris Armen, konnte jedoch nicht sprechen, um ihr zu sagen, was ihn heimsuchte. Aber er wusste, dass er von da an nicht mehr nach oben gehen wollte.
Am folgenden Nachmittag schlich er sich mit heftig in der Brust hämmerndem Herzen ein letztes Mal in das dritte Stockwerk.
Der Tür zum Turm näherte er sich diesmal nicht. Stattdessen holte er hastig die Puppe aus ihrem Versteck hervor und sauste zurück, so schnell er konnte, überzeugt davon zu hören, wie der Geist seiner Mutter versuchte, sich unter der Turmtür hindurchzuzwängen, um ihn zu fangen.
Nie wieder , gelobte er sich und vergewisserte sich, dass die Tür am Fuß der Treppe fest verriegelt war. Dann rannte er ins Spielzeugzimmer, kauerte sich in eine Ecke neben dem Schrank und wiegte die Puppe in den Armen.
Die nächsten Tage verbrachte Tobin damit, sich den Kopf über ein neues Versteck zu zerbrechen, doch er fand keinen Ort, der ihm sicher erschien. Ganz gleich, wie sorgfältig er sie verstaute, er konnte nicht aufhören, sich zu sorgen.
Letztlich beschloss er, sein Geheimnis mit Nari zu teilen. Mittlerweile liebte sie ihn mehr als irgendjemand sonst, und vielleicht würde sie nicht so schlecht von ihm denken, zumal sie eine Frau war.
Er entschied, ihr die Puppe zu zeigen, wenn sie käme, um ihn zum Abendessen zu holen. Tobin wartete, bis er sie den Flur betreten hörte, dann holte er die Puppe aus ihrem jüngsten Versteck unter dem Schrank im Spielzeugzimmer hervor und wandte sich der Tür zu.
Einen Lidschlag lang vermeinte er, jemanden im offenen Eingang stehen zu sehen. Dann schlug die Tür laut zu, und der Dämon verfiel in Raserei. Wandbehänge segelten zu Boden und sprangen ihn wie lebendige Kreaturen an. Staub erstickte ihn, als ihn mehrere Schichten des schweren Gewebes auf die Knie zwangen und das Licht aussperrten. Er ließ die Puppe fallen, und es gelang ihm, sich gerade noch rechtzeitig unter den Behängen hervorzukämpfen, um zu sehen, wie der Kleiderschrank vorwärtskippte und mit einem Krachen nur wenige Zoll von der Stelle entfernt landete, an der er lag. Die Truhe richtete sich auf und ergoss Spielzeug und Tintenfässer auf den Boden.
Das Siegel eines der größeren Fässchen brach auf, und eine Pfütze klebriger, schwarzer Flüssigkeit breitete sich auf dem Steinboden aus.
Wie Mamas Haare auf dem Eis …
Der Gedanke kam und ging wie eine über die Wasseroberfläche des Flusses streifende Libelle.
Dann griff der Dämon seine Stadt an.
Er riss Holzhäuser von ihren Plätzen und schleuderte sie in die Luft.
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