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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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Menschen und Tiere flogen gegen die Wand. Winzige Schiffe stoben auseinander, als hätte eine Sturmbö sie erfasst.
    »Nicht! Hör auf damit!«, kreischte Tobin und befreite sich von den gefallenen Wandteppichen, um seine geliebte Spielzeugstadt zu beschützen. Eine Herde Tonschafe segelte an seinem Kopf vorbei und zerbarst an der Wand in Scherben. »Hör auf! Das gehört mir !«
    Tobins Sicht schien zu einem langen, dunklen Tunnel zu schrumpfen, und alles, was er an dessen Ende sehen konnte, war, wie sein liebster Besitz in Stücke gerissen wurde. Er schlug wild um sich, fuchtelte mit den Fäusten, um den abscheulichen Geist zu vertreiben. Von irgendwo in der Nähe hörte er ein lautes Pochen; voll blinder Wut kämpfte er noch verbissener, bis seine Hand etwas Festes traf. Er vernahm einen erschrockenen Aufschrei. Starke Hände packten ihn und rangen ihn zu Boden.
    »Tobin! Tobin, hör auf damit!«
    Nach Luft ringend, schaute Tobin zu Nari auf. Tränen strömten ihr über die rundlichen Wangen, und Blut troff ihr aus der Nase.
    Ein roter Tropfen auf dem Schnabel eines Waldhuhns – dasselbe schillernde Rot auf dem Eis des Flusses …
    Tobins Sicht wurde völlig schwarz. Schmerzen erblühten in seiner Brust wie eine Blume aus Feuer, pressten ihm ein abgehacktes Heulen aus den Lungen.
    Seiner Mutter Vögel, die sich gegen die Turmmauern hinter ihm schleudern, als er hinabblickt …
    Nein, nicht daran denken!
    … auf ihren zerschmetterten Leib am Rand des Flusses.
    Schwarzes Haar und rotes Blut auf dem Eis.
    Der sengende Schmerz verschwand, ließ ihn kalt und leer zurück.
    »O Tobin, wie konntest du nur?« Nari weinte und drückte ihn immer noch zu Boden. »All deine schönen Sachen! Warum?«
    »Das war ich nicht«, flüsterte er, zu müde, um sich zu bewegen.
    »Oh, mein armer Schatz – der Schöpfer erbarm sich, du hast gesprochen!« Nari zog Tobin in ihre Arme. »Oh, mein Liebling, du hast endlich deine Stimme wiedergefunden.«
    Sie trug ihn nach nebenan in sein Bett und deckte ihn zu, doch er bemerkte es kaum. Schlaff wie die Puppe lag er da und erinnerte sich.
    Er erinnerte sich daran, weshalb er im Turm gewesen war.
    Er erinnerte sich daran, weshalb seine Mama tot war.
    Weshalb er die Puppe hatte.
    Sie hatte sie ihm gar nicht geschenkt.
    Ein weiterer kurzer, scharfer Stich zuckte durch Tobins Brust, und er fragte sich, ob es das war, was Nari meinte, wenn sie bei ihren Gutenachtgeschichten davon erzählte, dass jemandes Herz brach.
    Sie legte sich neben ihn, hielt ihn durch die Decke fest und streichelte ihm übers Haar, wie sie es immer tat. Tobin wurde dadurch schläfrig.
    »Warum?«, brachte er zuletzt hervor. »Warum hat Mama mich gehasst?« Doch sofern Nari eine Antwort darauf hatte, schlief er ein, bevor er sie hörte.
     
    Mit einem Ruck erwachte Tobin mitten in der Nacht und wusste sofort, dass er die Puppe irgendwo im Spielzeugzimmer gelassen hatte.
    Er glitt aus dem Bett und huschte im Nachthemd nach nebenan, wo er feststellte, dass der Raum bereits aufgeräumt worden war. Die Behänge kleideten wieder die Wände. Der Schrank und die Truhe standen an ihren Plätzen. Die Tinte war ebenso verschwunden wie all das verstreute Spielzeug. Seine Stadt lag in Trümmern mitten auf dem Boden; Tobin müsste sie unbedingt wieder richten, bevor sein Vater nach Hause käme und sie so sähe.
    Die Puppe aber entdeckte er nirgends. Er verließ das Zimmer und durchsuchte das Haus Raum für Raum, sah sogar in der Kaserne und in den Ställen nach.
    Niemand sonst hielt sich im Haus auf. Dies verängstigte ihn entsetzlich, denn er war noch nie so alleine gewesen. Schlimmer noch, er wusste, dass als einziger Ort, an dem er noch nicht gesucht hatte, der Turm übrig blieb. Er stand auf dem Hof und blickte hinauf zu den geschlossenen Läden der Fenster über dem Dachrand.
    »Ich kann nicht«, sprach er laut aus. »Ich will nicht da hinaufgehen.«
    Wie zur Antwort schwang das Hoftor mit knarrenden Angeln auf, und Tobin erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine kleine, dunkle Gestalt, die über die Brücke huschte.
    Er folgte ihr, doch kaum hatte er das Tor durchschritten, fand er sich tief im Wald wieder und wandelte auf einem Pfad, der entlang des Flussufers verlief. Weit voraus, halb von Zweigen verborgen, erspähte er abermals eine Bewegung und wusste, dass es sich um den Dämon handelte.
    Tobin ging ihm auf eine Lichtung nach, doch der Dämon verschwand. Mittlerweile war der Mond aufgegangen, und er sah zwei Rehe, die auf

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