Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
wie man graste. Auf sie wollte Tharin nicht schießen, nur auf Waldhühner und Kaninchen.
Manchmal verbrachten sie den ganzen Tag draußen und brieten ihre Beute auf Spießen über einem Feuer, wenn die Jagd gut verlaufen war, oder aßen das Brot und den Käse, die Köchin ihnen mitgegeben hatte, wenn sie weniger Glück hatten. Tobin war beides recht, solange er nur im Freien sein konnte. Er hatte nie zuvor so viel Spaß gehabt.
Tharin und Koni lehrten ihn, wie er zwischen den Bäumen die Richtung bestimmen konnte, indem er auf den Stand der Sonne über seiner Schulter achtete. Einmal stolperten sie über ein Nest noch vom Winterschlaf träger Waldschlangen in einem Steinhaufen, und Koni erklärte Tobin, wie er anhand der Kopfform bestimmen konnte, ob es sich um Giftschlangen handelte oder nicht. Tharin zeigte ihm die Spuren und Fährten der Tiere, die sich diesen Wald teilten. Vorwiegend waren es Abdrücke von Kaninchen, Füchsen und Hirschen. Als sie jedoch eines Tages einen Wildpfad entlangwanderten, beugte sich Tharin plötzlich neben einem Flecken weicher Erde hinab.
»Siehst du das?«, fragte er und deutete auf einen Abdruck breiter als seine Hand. Er erinnerte an den eines Jagdhundes, war jedoch runder. »Das ist ein Berglöwe. Deshalb spielst du auf dem Hof, mein Junge. Eine so große Katze mit Jungen, die sie füttern muss, würde dich als gute Tagesbeute betrachten.«
Als er Tobins erschrockene Miene sah, kicherte er und zerzauste dem Jungen das Haar. »Bei Tageslicht ist es unwahrscheinlich, dass man auf sie trifft, und wenn der Sommer kommt, ziehen sie weiter hinauf in die Berge. Aber du solltest dich nie nachts allein hier draußen herumtreiben.«
Tobin sog all diese Lektionen emsig auf und machte selbst ein paar Beobachtungen: Eine einladende Spalte unter einem umgestürzten Baum, ein geschützter Kreis aus Steinen, ein schattiges Loch unter einem Felsbrocken – alles wunderbare Verstecke, groß genug für die ärgerliche Puppe. Zum ersten Mal fragte er sich, wie es wäre, allein durch den Wald zu streifen und diese Verstecke zu erkunden.
Mittlerweile begleitete sein Vater sie ab und an zur Jagd, doch er verhielt sich zu still, als dass sich Tobin in seiner Gegenwart behaglich fühlen konnte. An den meisten Tagen blieb er in seiner versperrten Kammer, wie es früher Tobins Mutter getan hatte.
Tobin schlich sich des Öfteren zur Tür seines Vaters, presste ein Ohr daran und wünschte sich innig, dass alles wieder so würde, wie es gewesen war. Früher.
Eines Nachmittags fand Nari ihn so vor, kniete sich neben ihn und schlag die Arme um ihn. »Gräm dich nicht«, flüsterte sie und streichelte ihm die Wange. »Männer ringen alleine mit ihrem Kummer. Bald wird es ihm wieder besser gehen.«
Aber auch, als Wildblumen hervorbrachen und das frische Gras auf der Weide sprenkelten, blieb Rhius nur ein Schatten im Haus.
Gegen Ende des Lithion wurden die Straßen trocken genug, um mit dem Karren zum Markt zu fahren. Am Markttag nahmen Köchin und Nari ihn mit nach Alestun, weil sie dachten, es würde Tobin Freude bereiten, auf Gosi neben dem Karren einherzureiten. Er schüttelte den Kopf und versuchte, Nari zu bedeuten, dass er nicht wollte, aber sie schnalzte nur mit der Zunge und beharrte, dass er den Ausritt genießen würde.
Auf den Weiden rings um die Ortschaft tummelten sich Lämmer und Kinder, und die Felder voll jungem Hafer und junger Gerste sahen wie weiche, über den Boden ausgebreitete Wolldecken aus. Am Straßenrand wuchs dicht wilder Krokus, und sie hielten an, um ein paar Handvoll davon für den Schrein zu pflücken.
Mittlerweile barg Alestun keinerlei Reiz mehr für Tobin. Den anderen Kindern schenkte er keine Beachtung, und er gestattete sich nie, irgendwelche Puppen anzusehen. Seine Blumen fügte er dem duftenden Haufen um den Dalna-Pfosten hinzu, dann wartete er gleichmütig, bis die Erwachsenen ihre Besorgungen erledigt hatten.
Als sie an jenem Abend nach Hause zurückkehrten, fanden sie Rhius und die anderen auf dem Hof vor, wo sie ihre Pferde zum Aufbruch bepackten. Tobin glitt von Gosis Rücken und rannte zu seinem Vater.
Rhius umfasste seine Schultern. »Ich werde am Hof gebraucht. Ich komme zurück, sobald ich kann.«
»Ich auch, kleiner Prinz«, versprach Tharin, der über die Abreise trauriger als sein Vater wirkte.
Ich brauche dich hier! , wollte Tobin schreien. Aber es wollten immer noch keine Worte über seine Lippen, und er musste sich abwenden, auf dass
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