Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
aß mit den anderen zu Mittag, danach entschuldigte er sich.
Nari zog ihn dicht an sich und küsste ihn auf den Kopf. Sie schien ihn in diesen Tagen ständig zu herzen. »Was willst du denn alleine anstellen, mein Schatz? Bleib bei uns und leiste uns Gesellschaft.«
»Ich will an meiner Stadt arbeiten.« Tobin drückte das Gesicht fest an ihre Schulter, damit sie nicht sehen würde, dass er log. »Glaubst du … glaubst du, Vater wird wütend, wenn er es sieht?«
»Natürlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater je wütend auf einen so guten Jungen sein könnte, wie du es bist. Stimmt’s nicht, Köchin?«
Die Frau nickte über ihrem Brot und Käse. »Du bist für ihn die Sonne und der Mond.«
Die Ascheschaufel neben dem Kamin sprang mit lautem Klappern von ihrem Nagel, doch alle gaben vor, es nicht zu bemerken.
Tobin befreite sich aus Naris Umarmung, rannte nach oben und wartete am Fenster, bis er wieder alle draußen auf dem Hof hörte. Dann versteckte er die Puppe unter seinem längsten Mantel, schlich wieder hinunter und huschte zum vorderen Tor hinaus. Halb erwartete er, auf magische Weise in den Wald versetzt zu werden, wie es sich immer in seinem Traum begab, endete jedoch lediglich außerhalb der Mauer. Als das Tor hinter ihm zuschwang, erstarrte er einen Augenblick, überwältigt vom Ausmaß dessen, was er zu tun gedachte. Was, wenn Nari herausfände, dass er verschwunden war? Was, wenn er einem Berglöwen oder einem Wolf begegnete?
Eine aufkeimende Brise strich ihm mit dem Duft von Regen übers Gesicht, als er zwischen der Hofmauer und dem Flussufer auf den Wald zuschlich. Irgendwo in der Nähe sangen Wanderdrosseln über den aufziehenden Sturm, und Tauben riefen einander in den Bäumen klagend zu.
Das Tor zum Küchenhof stand noch offen. Im Vorübergehen sah er Nari und Köchin bei der Arbeit. Sie lachten, während sie den Waschzuber mit ihren Holzpaddeln umrührten. Es fühlte sich äußerst seltsam an, draußen zu stehen und hineinzublicken.
Tobin setzte den Weg fort, folgte der Mauer am Fuß des Turms vorbei. Als er an den Felsbrocken vorbeikam, auf denen seine Mutter gestorben war, hielt er die Augen zu Boden gerichtet.
Endlich erreichte er den Schutz der Bäume, und erst da erkannte Tobin, dass er keine Ahnung hatte, wohin er gehen sollte; in seinen Träumen führte ihn stets der Dämon. Aber in dem Traum gab es einen Fluss wie jenen neben ihm, und so beschloss er, ihm zu folgen und das Beste zu hoffen. Er blieb stehen, um den Stand der Sonne über seiner Schulter zu überprüfen, wie Tharin es ihm beigebracht hatte. An jenem Tag gestaltete es sich schwierig, zumal die Sonne wenig mehr als einer hellen Schliere hinter dem Wolkenschleier glich.
Der Fluss ist so gut wie ein Pfad, dachte er. Alles, was ich tun muss, ist, ihm nach Hause zu folgen.
Er war diesen Weg noch nie gegangen. Das Flussufer erwies sich als steil, und die Bäume wuchsen bis dicht zum Wasser hin. Um dem Fluss zu folgen, musste er über Felsbrocken klettern und sich durch dichte Gruppen von Weiden und Erlen schlängeln. An tiefer gelegenen Stellen entdeckte er Tierspuren im Schlamm und überprüfte sie beunruhigt nach Anzeichen auf umherstreunende Berglöwen. Zwar fand er keine, dennoch wünschte er, daran gedacht zu haben, seinen Bogen mitzunehmen.
Der Himmel verfinsterte sich zunehmend, während er sich weiter vorwärts mühte, und der Wind begann, die Äste über ihm hin und her zu peitschen. Mittlerweile tschilpten keine Wanderdrosseln und gurrten keine Tauben mehr, nur ein paar Raben krächzten noch in der Nähe. Tobins Arm verkrampfte sich allmählich vom Tragen der Puppe. Er dachte an all die Verstecke, die er bei seinen Ausritten gesehen hatte, doch die wenigen Löcher, auf die er hier in Flussnähe stieß, schienen allesamt zu nass. Selbst wenn er ein trockenes Versteck fände, war er nicht sicher, ob er es häufig wagen würde, die Feste zu verlassen, um die Puppe zu besuchen. Unmittelbar auf jenen Gedanken folgte die Erkenntnis, dass er eigentlich überhaupt nicht von ihr getrennt sein wollte.
Es ist besser, weiterzugehen und nach jenem verborgenen Raum zu suchen, dachte er bei sich.
Allerdings sah nichts so aus wie in seinem Traum. Es gab keine Lichtung, keine freundlichen Rehe, die ihn erwarteten, nur Steine und Wurzeln, zwischen denen sich seine Füße verfingen, kleine, stechende Mücken, die ihm in den Ohren summten, und Schlamm, der seine Schuhe durchtränkte. Er war fast bereit
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