Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
aufzugeben, als er auf einen deutlichen Pfad stieß, der zu einem höher gelegenen Kiefernhain führte.
Jener Weg gestaltete sich erheblich einfacher. Duftende, rostfarbige Nadeln bedeckten dick den Boden, und seine Füße verursachten beim Gehen kaum ein Geräusch. Freudig folgte er dem Pfad, überzeugt davon, er würde ihn zu der Lichtung und den Rehen führen. Stattdessen verblasste er zusehends, bis er gänzlich unter den mächtigen, geraden Stämmen der Kiefern verschwand. Als sich Tobin umdrehte, konnte er den Rückweg nicht erkennen. Seine Füße hatten keine Abdrücke auf dem dichten Nadelbett hinterlassen. Selbst das Geräusch des Flusses hörte er nicht mehr, nur das erste Prasseln von Regen durch das Geäst. Gleichgültig, in welche Richtung er sich wandte, alles ähnelte sich. Der Fleck Himmel, den er durch das Geflecht der Zweige erspähen konnte, glich einer ebenmäßigen, grauen Decke ohne ein Anzeichen der Sonne.
Die Brise war abgeflaut, und der Tag neigte sich dem Ende zu. Fliegen mit großen, grünen Augen gesellten sich zu den Schwärmen winziger Stechmücken, die ihn umschwirrten und ihn in den Hals und hinter den Ohren stachen. Das große Abenteuer war vorüber. Tobin war es heiß, und er war verängstigt und verwirrt.
Verzweifelt sah er sich um und hielt Ausschau nach dem Weg, doch vergeblich. Schließlich gab er es auf, setzte sich auf einen Stein und fragte sich, ob Nari schon bemerkt hatte, dass er verschwunden war.
Stille herrschte. Er vernahm nur das zornige Quieken eines roten Eichhörnchens und die Laute kleiner Geschöpfe, die rings um ihn durch das Unterholz schlichen. Kleine, schwarze Ameisen wuselten durch die Nadeln um seine Füße, trugen ihre Eier und Teile von Blättern. Erschöpft beugte er sich vor und beobachtete sie. Eine Ameise trug ein glänzendes Käferbein zwischen den Zangen. Eine lange, schwarze Schlange, so dick wie Tobins Handgelenk, kam aus einem Loch unter einem Baum in der Nähe hervor und kroch an seinem Fuß vorbei, ohne ihm auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Regentropfen rieselten sanft durch die Zweige, und ihm fiel auf, welch unterschiedliche Geräusche sie verursachten, je nachdem, ob sie auf Laub, Pflanzen, Steinen oder den Nadeln auf dem Boden landeten. Unbehaglich überlegte er, wie die Tatzen eines Berglöwen auf Kiefernnadeln klängen, oder ob sie überhaupt nicht zu hören waren.
»Ich mir schon gedacht, dass heute du kommst vielleicht.«
Tobin kippte beinahe von seinem Stein, als er herumwirbelte. Eine kleine, schwarzhaarige Frau saß – die Hände im Schoß gefaltet – auf einem wenige Schritte entfernten, moosigen Baumstrunk. Sie wirkte äußerst schmutzig und trug zerfranste, braune Lumpen von einem Kleid, verziert mit Tierzähnen. Ihre Hände und bloßen Füße waren fleckig, und in ihrem langen, krausen Haar hatten sich Stöcke und Laubflicken verfangen. Sie grinste ihn an, doch aus ihren schwarzen Augen sprach kein Hohn.
Tobin warf die Puppe hinter sich, schämte sich dafür, damit überrascht worden zu sein, selbst einer Fremden gegenüber. Und er fürchtete sich, als er das lange Messer in der Scheide an ihrem Gürtel bemerkte. Sie sah nicht wie ein Pächter seines Vaters aus und sprach seltsam.
Sie bedachte ihn mit einem breiten Lächeln, in dem mehrere Zähne fehlten. »Schau, was ich haben, Keesa .« Sie bewegte die Hände, und Tobin sah, dass sie ein junges Kaninchen auf dem Schoß hatte. Sie streichelte die Ohren und den Rücken des Tiers. »Du kommen schauen?«
Tobin zögerte, doch Neugier überwog seine Vorsicht. Er stand auf, ging langsam auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
»Du sie streicheln«, sagte die Frau und zeigte ihm, wie er das Kaninchen kraulen sollte. »Sie mögen.«
Tobin streichelte über den Rücken des Tiers. Das Fell fühlte sich weich und warm unter seiner Hand an, und wie die Rehe in seinem Traum schien es kein bisschen scheu.
»Sie dich mag.«
Ja, dachte Tobin, diese Frau sprach tatsächlich anders als alle, denen er bisher in Alestun begegnet war. Nun befand er sich ihr nahe genug, um zu bemerken, dass sie auch nicht besonders gut roch, aber aus unerfindlichem Grund fürchtete er sich nicht mehr.
Er behielt die Puppe unter dem Mantel versteckt, kniete sich hin und streichelte das Kaninchen weiter. »Sie ist weich. Hunde lassen sich nicht von mir kraulen.«
Die Frau schnalzte mit der Zunge gegen die Zähne. »Hunde nicht verstehen.« Bevor Tobin sie fragen konnte, was sie damit meinte,
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