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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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begegnen.
    Im ganzen Haus roch es angenehm nach Backgut. Tobin versteckte die Puppe wieder in der Truhe, schob seine besudelten Schuhe unter den Kleiderschrank, wusch sich Hände und Gesicht und begab sich nach unten zum Abendessen.
    Zurück in der Sicherheit seines Heims, vergaß er bald, wie sehr er sich gefürchtet hatte. Er war stundenlang fort gewesen, hatte ein Abenteuer erlebt, und niemand hatte es bemerkt. Auch wenn er sich geängstigt hatte, auch wenn Bruder nicht sein Freund oder auch nur viel weniger Furcht erregend sein würde, irgendwie fühlte er sich älter und näher daran, der Krieger zu werde, der eines Tages seines Vaters Rüstung tragen würde.
    Nari und Mynir legten Löffel auf den Küchentisch, während Köchin etwas Leckeres in einem Kessel über dem Feuer umrührte.
    »Da bist du ja!«, rief Nari aus, als er eintrat. »Ich wollte dich gerade holen kommen. Du bist heute Nachmittag so still gewesen, dass ich dich kaum bemerkt habe!«
    Tobin griff sich ein warmes Brötchen von dem Haufen, der auf der Anrichte abkühlte, biss hinein und lächelte.
    Lhel würden diese Brötchen schmecken.

K APITEL 14
     
    Am nächsten Tag saß Tobin neben seiner Spielzeugstadt und hielt die Puppe auf dem Schoß. Nari war mit Mynir in die Stadt gereist, und bei Köchin konnte man sich darauf verlassen, dass sie oben nicht nach ihm suchen würde.
    Der durchdringende Duft frischer Kräuter stieg Tobin in die Nase, während er in das leere Gesicht hinabstarrte und wie schon so oft überlegte, was seine Mutter darin erkannt haben mochte, wenn sie es betrachtet hatte. Hatte sie Bruder darin gesehen? Er hakte einen Finger unter die Haarkordel um den Puppenhals und zupfte müßig daran, dachte dabei: Mein Haar; mein Blut.
    Und seine Verantwortung, hatte Lhel gesagt, wenngleich er sie nicht wollte. Es war schlimm genug gewesen, Bruder zu rufen, als sie bei ihm gewesen war. Es nun zu tun? Hier? Allein beim Gedanken daran, schlug sein Herz schneller.
    Stattdessen holte er Tinte und einen Federkiel aus der Truhe und trug die Puppe zum Fenster, wo besseres Licht herrschte. Er tauchte den Kiel in die Tinte und versuchte, ein rundes Auge in das blanke Stoffgesicht zu zeichnen. Die Tinte sickerte in den Musselin, wodurch ein spinnengliedriger, schwarzer Klecks entstand. Seufzend schnippte er ein paar Tropfen Tinte vom Kiel und versuchte es mit einer trockeneren Spitze erneut. Diesmal gelang es ihm besser, und er zeichnete um den Klecks herum, füllte dessen Kanten zu einer großen, dunklen Netzhaut und umrahmte sie mit zwei geschwungenen, waagerechten Linien als Lider. Nachdem er ein zweites Bild selber Machart hinzugefügt hatte, blickte er in große, schwarze Augen, die durchaus an jene Bruders erinnerten. Danach versuchte er sich an der Nase und dunklen Brauen. Als er jedoch beim Mund anlangte, zeichnete er ihn lächelnd. Das sah gar nicht richtig aus; die Augen wirkten immer noch zornig, doch er konnte nichts mehr ändern. Es war kein besonders gelungenes Gesicht, dennoch eine Verbesserung gegenüber dem leeren, das er sein Leben lang gekannt hatte.
    Zudem ließ es die Puppe mehr wie die seine erscheinen, aber Bruder zu rufen, empfand Tobin deshalb nicht als weniger beunruhigend. Tobin trug die Puppe in den von der Tür entferntesten Winkel und setzte sich mit dem Rücken an die Wand gepresst hin. Was, wenn Bruder ihn angriffe? Was, wenn er die Stadt erneut zerbräche oder davonraste, um jemanden zu verletzen?
    Letzten Endes waren es Lhels Worte über Bruders Hunger, die Tobin dazu bewogen, den Ruf zu wagen. Er drückte sich in die Ecke, so gut er konnte, kniffe die Augen halb zusammen und flüsterte: »Blut, mein Blut. Fleisch, mein Fleisch. Knochen, mein Knochen.«
    Am Vortag in der Eiche hatte sein Bruder wie ein wildes Tier unmittelbar vor seinen Füßen gekauert. Diesmal hingegen musste sich Tobin umsehen, um ihn zu entdecken.
    Bruder stand an der Tür, als wäre er gerade hereingekommen – wie ein lebendiger Mensch. Er war immer noch dünn und schmutzig, aber er trug einen schlichten, sauberen Kittel ähnlich jenem, der Tobin kleidete. Außerdem wirkte er an diesem Tag nicht so zornig. Er stand einfach da und starrte Tobin völlig ausdruckslos aus, als wartete er auf etwas.
    Langsam erhob sich Tobin, ohne die Augen von dem Geist abzuwenden. »Möchtest – möchtest du hier herüberkommen?«
    Bruder durchschritt das Zimmer nicht. Vielmehr befand er sich schlagartig neben Tobin und starrte ihn mit jenen schwarzen Augen

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