Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Wandgemälde und die edle Einrichtung zerstört.
Seltsamerweise gab es Anzeichen dafür, dass jemand diese düsteren Räumlichkeiten regelmäßig besuchte. Im Staub, der die kahlen Böden bedeckte, zeichneten sich mehrere Fußspuren ab. Insbesondere ein Raum war häufig von einem Besucher mit kleinen Füßen aufgesucht worden, wenngleich mittlerweile eine feine Schicht neuer Ablagerungen die Abdrücke überzog. Dieser Raum befand sich auf halbem Weg den Flur hinab und war besser erhalten als die angrenzenden Kammern, zudem heller, da die Läden an den hohen, schmalen Fenstern darin fehlten.
Tobin war offenbar bei zahlreichen Gelegenheiten hier gewesen und hatte sich stets zur hinteren Ecke des Raumes begeben. Eine Zedernholztruhe mycenischer Machart stand dort. Der Staub auf ihrem bemalten Zierdeckel erzählte dieselbe Geschichte. Arkoniel beschwor eine kleine Lichtkugel herauf und bückte sich, um die Flecke und Fingerabdrücke darauf zu betrachten. Tobin war hierher gekommen, um die Truhe zu öffnen. Arkoniel fand darin lediglich ein paar Wappenröcke uralten Schnitts.
Ob es eine Art Spiel gewesen war? Doch was für ein Spiel würde ein Kind alleine spielen, erst recht ein Kind, das nicht wusste, wie man sich etwas vorstellte? Arkoniel sah sich in dem schmutzigen, schattigen Zimmer um und malte sich Tobin alleine darin aus. Seine kleinen Schritte kreuzten einander für so viele Tage, wie das Spiel gedauert hatte. Ein weiterer Anflug von Mitgefühl versetzte dem Zauberer einen Stich ins Herz, diesmal für den lebenden Zwilling.
Als gleichermaßen rätselhaft empfand er die Spuren, die zum fernen Ende des Flurs führten. Die Tür dort schien neu zu sein und war als einzige abgeschlossen.
Arkoniel legte die Hand auf die Schlüsselplatte aus Bronze und begutachtete die Feinheiten des Schlosses. Es wäre vergleichsweise einfach gewesen, es zu öffnen, aber die ungeschriebenen Gesetze der Inanspruchnahme von Gastfreundschaft verboten einen derart derben Übergriff. Zudem ahnte er ohnedies bereits, wohin die Tür führte.
Sie hat sich aus dem Turmfenster gestürzt …
Arkoniel lehnte die Stirn an die kühle Oberfläche der Tür. Ariani war hierher geflüchtet – in den Tod geflüchtet, und sie hatte ihr Kind mitgenommen. Oder war Tobin ihr gefolgt? Es lag zu lange zurück, und zu viele andere waren seither an diesen Ort gekommen und wieder gegangen, um die Geschichte der Spuren noch lesen zu können.
Naris ungewisser Verdacht nagte noch immer an ihm. Besessenheit kam selten vor, und er konnte nicht glauben, dass Tobin seine Mutter selbst verletzt hätte. Hingegen hatte Arkoniel mittlerweile bereits drei Mal die Wut des Dämons gespürt; er besaß sowohl die Kraft als auch den Willen zu töten. Aber weshalb hätte er seine Mutter töten sollen, die ebenso ein Opfer der Umstände gewesen war wie er und seine Zwillingsschwester?
Zurück im Erdgeschoss durchquerte er die düstere Halle und ging nach draußen. Der Herzog war weit und breit nicht zu sehen, aber seine Männer beluden emsig Pferde und stapelten Waffen für die Reise zurück nach Ero.
»Wie geht’s dem Arm heute?«, erkundigte sich Tharin und kam zu ihm herüber.
»Ich denke, er wird gut verheilen. Danke.«
»Hauptmann Tharin sorgt dafür, dass wir alle heil bleiben«, meldete sich ein junger, rotblonder Mann zu Wort, der unter der Last einer Hand voll Werkzeug wankte. »Du bist also der junge Zauberer, der mit einem zweijährigen Wallach nicht zurechtkommt?«
»Hüte deine Zunge, Sefus, sonst verwandelt er dich in etwas Nützliches«, bellte ein älterer Mann von einer an die Hofmauer angebauten Werkstatt herüber. »Komm lieber her und hilf mir mit dem Geschirr, du fauler Geck!«
»Schenk Sefus einfach keine Beachtung«, riet ihm ein anderer junger Soldat grinsend. »Er wird reizbar, wenn er zu lange kein Freudenhaus besucht hat.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es niemandem von euch Freude bereitet, so weit von der Stadt entfernt zu weilen. Dies hier scheint mir kein sehr heiterer Ort zu sein.«
»Und um das zu erkennen, hast du den ganzen Vormittag gebraucht?«, gab Tharin kichernd zurück.
»Sind die Männer gut zu dem Jungen?«
»Glaubst du, Rhius würde etwas anderes dulden? Für ihn geht mit diesem Kind die Sonne auf und unter. Für uns alle eigentlich. Es ist nicht Tobins Schuld.« Er deutete auf das Haus. »Nichts von allem ist seine Schuld.«
Der rechtfertigende Tonfall, in dem er dies erklärte, entging Arkoniel nicht.
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