Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Deshalb sollst du ihm Gesellschaft leisten.«
»Ist seine Mutter gestorben?«
»Ja, vor einem Jahr, letzten Frühling.«
»Vor einem Jahr? Und der Herzog tut noch kein neues Weib haben?«, fragte Ki.
Iya seufzte. »Herzog Rhius hat noch kein – Bei Illiors Fingern! ›Hat noch nicht wieder geheiratet ‹ drückt man so etwas aus, wenngleich es dich nichts angeht! Und nein, hat er nicht. Ich denke, du wirst feststellen, dass sein Haushalt gänzlich anders ist als der, den du gewohnt bist.«
Eine weitere Pause, dann: »Ich habe gehört, dass manche Leute behaupten, in der Burg des Prinzen tät’s einen Geist geben.«
»Hast du Angst vor Geistern?«
»Ja, Frau Iya! Ihr nicht?«
»Nicht besonders. Und du darfst auch keine Angst haben, denn es gibt einen Geist in der Feste.«
»Bei Bilairys Hintern!«
Plötzlich befand sich Ki nicht mehr hinter ihr. Als sich Iya umdrehte, fand sie ihn mit seinem Bündel in den Armen auf der Straße stehend vor, wo er elend zurück in Richtung seines Heims starrte.
»Komm zurück hier herauf, Junge!«
Ki zauderte, konnte augenscheinlich nicht entscheiden, wovor er sich mehr fürchtete – vor Geistern oder seinem bedrohlichen Vater.
»Mach dich nicht lächerlich«, schalt sie ihn. »Prinz Tobin hat sein ganzes Leben mit ihm verbracht, und der Geist hat ihm noch nie etwas zuleide getan. Also komme jetzt mit, oder ich schicke dich zurück. Der Prinz braucht keine Feiglinge um sich herum.«
Ki schluckte schwer und straffte die Schultern, was Iya erwartet hatte. »Mein Vater hat keine Feiglinge gezeugt.«
»Freut mich, das zu hören.«
Als er wieder aufgestiegen war, fragte sie: »Woher weißt du von dem Geist?«
»Ahra hat mir heute Morgen erzählt, sie hätte gehört, wem mich Vater überantwortet hat.«
»Und woher wusste sie davon?«
Sie spürte ein Schulterzucken. »Sagte, sie hätte es unter den Rängen gehört.«
»Und was hat deine Schwester sonst noch gehört?«
Ein weiteres Schulterzucken. »Das ist alles, was sie mir gesagt hat, Frau Iya.«
Auf verdrießliche Weise gebärdete sich Ki den Rest des Tages höflich, und in der Nacht weinte er leise, als er dachte, Iya wäre eingeschlafen. Halb erwartete sie, er würde am nächsten Morgen verschwunden sein. Als sie jedoch kurz nach dem Morgengrauen die Augen aufschlug, war er noch da und beobachtete sie von der gegenüberliegenden Seite eines frisch entfachten Feuers aus. Unter seinen Augen prangten dunkle Ringe, aber er hatte für sie beide ein kaltes Frühstück vorbereitet und ähnelte mehr dem klugen Burschen, für den sie ihn an jenem ersten Abend gehalten hatte.
»Guten Morgen, Frau Iya.«
»Guten Morgen, Ki.« Die Zauberin setzte sich auf und streckte die steifen Schultern.
»Wie lang noch, bis wir dort sind?«, fragte er, während sie aßen.
»Oh, drei oder vier Tage, denke ich.«
Er biss ein weiteres Stück Wurst ab und kaute geräuschvoll. »Könnt Ihr mir unterwegs beibringen, wie man anständig redet, so, wie Ihr gesagt habt?«
»Zum Anfang spricht man mal nicht mit vollem Mund. Und kau nicht mit offenem Mund.« Sie kicherte, als er hastig schluckte. »Ist nicht nötig, meinetwegen zu ersticken. Mal sehen, was gibt es noch? Fluch nicht auf Bilairys Körperteile. Das ist ungehobelt. Und jetzt sag: ›Könnt Ihr mir bitte beibringen, ordentlich zu reden?‹«
»Könnt Ihr mir bitte beibringen, ordentlich zu reden?«, wiederholte er so sorgfältig, als wäre es eine Fremdsprache, die er meisterte. »Und könnt Ihr mir bitte etwas über Geister lernen – beibringen, meine ich.«
»Ich werde beides tun, so gut ich kann«, erwiderte Iya und lächelte ihn an. Sie hatte doch richtig geurteilt. Dieser Junge war keine Steckrübe.
K APITEL 22
Eines Nachmittags im späten Rhythin saß Tobin mit Arkoniel auf dem Dach und blickte über die schillernden Farben des Waldes. Dabei wurde ihm klar, dass es nur noch wenige Wochen bis zu seinem Namenstag waren. Er hoffte, niemand würde sich daran erinnern.
Er hatte für den Morgenunterricht nicht hier herauf mitkommen wollen und achtete darauf, dass sie so weit wie möglich vom Treppenabsatz des Turms entfernt blieben.
Arkoniel versuchte, ihm Rechnen beizubringen, indem er getrocknete Bohnen und Linsen verwendete, um die Aufgabenstellungen zu veranschaulichen. Tobin wollte ihm Aufmerksamkeit schenken, aber seine Gedanken wanderten ständig zu dem Turm. Er spürte ihn hinter sich aufragen, kalt wie ein Schatten, obwohl die Sonne warm auf seine Schultern
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