Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
aber noch genießbar.
»Hier gibt es reichlich zu essen«, sagte Lhel, als sie weitergingen. Dann hielt sie abermals inne, pflückte einen großen, gelben Pilz von einem verrottenden Baumstamm und bot Arkoniel einen Biss davon an. »Ihr müsst jagen, bevor der Schnee kommt, und das Fleisch räuchern. Und Holz sammeln. Ich weiß nicht, ob alle Kinder das Frühjahr erleben werden. Totmus wohl eher nicht, denke ich.«
»Aber du hast ihn geheilt!«, entfuhr es Arkoniel bestürzt. Er hatte den Jungen bereits lieb gewonnen.
Lhel zuckte mit den Schultern. »Ich habe für ihn getan, was ich konnte, aber die Krankheit sitzt tief in seinen Lungen. Sie wird zurückkehren. Ich weiß, was die anderen über mich gesagt haben. Du hast dich für mich eingesetzt, und dafür danke ich dir, aber die Älteren haben Recht. Du kennst die Tiefen meiner Macht nicht.«
»Werde ich sie je kennen lernen?«
»Bete, dass du das nicht tust, mein Freund. Aber jetzt zeige ich dir etwas Neues, allerdings nur dir. Gib mir dein Wort, dass du es für dich behältst.«
»Bei meinen Händen, meinem Herzen und meinen Augen, ich verspreche es.«
»Gut. Fangen wir an.« Lhel legte die Hände trichterförmig an den Mund, stieß einen rauen, blökenden Laut aus und lauschte. Arkoniel hörte nur den Wind in den Bäumen und das Gurgeln des Baches.
Lhel drehte sich ein wenig herum und wiederholte den Ruf über den Bach hinweg. Diesmal ertönte eine leise Erwiderung, dann eine weitere, bereits näher. Am anderen Ufer löste sich ein mächtiger Hirsch aus den Bäumen und schnupperte argwöhnisch die Luft. Das Tier war riesig wie ein Schlachtross und besaß zehn spitze Fortsätze an jedem gewundenen Geweihende.
»Es ist Brunftzeit«, erinnerte Arkoniel die Hexe. Eine Begegnung mit einem Hirsch im besten Alter konnte um diese Zeit gefährlich sein.
Lhel jedoch zeigte sich ungerührt. Sie hob eine Hand zum Gruß und begann mit jener hohen, tonlosen Stimme zu singen, die sie manchmal verwendete. Der Hirsch schnaubte geräuschvoll und schüttelte den Kopf. Bastflocken flatterten von seinem Geweih. Arkoniel beobachtete ein Stück und merkte sich, wo es landete; sollte er diese Begegnung überleben, wusste er einen Trank, der geradezu danach rief, damit gebraut zu werden.
Lhel sang weiter und lockte den Hirsch über den Bach. Platschend watete er ans Ufer, blieb stehen und schwenkte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Lhel lächelte Arkoniel an, während sie das Tier zwischen dem Geweih kraulte und es wie eine zahme Milchkuh beruhigte. Nach wie vor summend zog sie mit der freien Hand ihr Silbermesser und vollführte einen gezielten Schnitt in die große Ader unmittelbar unter dem Kiefer des Hirsches. Ein Schwall Blut spritzte daraus hervor, den sie mit der Schüssel auffing. Der Hirsch schnaubte leise, hielt jedoch ruhig. Als sich das Blut in der Schüssel etwa einen Zoll hoch gesammelt hatte, reichte Lhel das Behältnis Arkoniel zum Halten, legte die Hände auf die Wunde und ließ die Blutung mit einer Berührung enden.
»Weich zurück«, murmelte sie. Als sie sich beide außer Reichweite des Tieres in Sicherheit befanden, klatschte die Hexe in die Hände und brüllte: »Ich gebe dich frei!«
Der Hirsch senkte den Kopf, schnitt mit dem Geweih durch die Luft und sprang zwischen die Bäume davon.
»Und jetzt?«, fragte Arkoniel. Aus der Schüssel stieg durchdringender Wildgeruch auf, und durch das Metall spürte er die in dem Blut anhaltende Wärme und Kraft.
Sie grinste. »Jetzt zeige ich dir, was du schon so lange wissen willst. Stell die Schüssel ab.«
Lhel hockte sich daneben und bedeutete Arkoniel, es ihr gleichzutun. Sie zog einen Lederbeutel aus dem Kragen ihres zerlumpten Kleides hervor und reichte ihn dem Zauberer. Darin fand er mehrere kleine, mit Garn umwickelte Kräuterbüschel und einige kleinere Beutel. Unter Lhels Anleitung zerrieb er eine Handvoll Winden und Lärchennadeln. Aus den kleineren Beuteln wurden einige Prisen Schwefel, Knochen und Ocker in Pulverform hinzugefügt, wodurch Flecken wie Rost an seinen Fingern zurückblieben.
»Rühr mit dem ersten Zweig um, den du in Reichweite findest«, wies Lhel ihn an.
Arkoniel ergriff einen kurzen, ausgebleichten Stock und rührte die Mischung damit um. Das Blut dampfte noch, roch jedoch nunmehr anders.
Lhel wickelte einen der Feuerspäne aus, den er für sie angefertigt hatte, und verwendete ihn, um einen Strang Süßheu anzuzünden. Als sie den beißenden Rauch sanft über die
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