Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
Anfangs fühlten sich Tobin und Ki verloren zwischen den endlosen, hoch aufragenden Regalen mit Schriftrollen und Einbänden, aber Nikides und die schwarz gewandeten Bibliothekare zeigten ihnen, wie man die verblassten Aufschriften auf jedem Regal las, und nach kurzer Zeit vertieften sie sich in Abhandlungen über Waffen und Schlachten sowie bunte Bücher mit Gedichten und Geschichten.
Tobin fand sich bald zurecht und entdeckte einen Raum, dessen Bücher sich der Geschichte seiner Familie widmeten. Er erkundigte sich beim Bibliothekar nach Königin Tamír, doch es gab nur einige staubige Schriftrollen, nüchterne Aufzeichnungen über die wenigen Gesetze und Steuern, die sie erlassen hatte. Geschichtliches über ihr kurzes Leben und die Zeit ihrer Herrschaft fanden sich nicht, und der Bibliothekar wusste von keinen anderen Quellen.
Tobin erinnerte sich an Niryns sonderbares Verhalten an jenem Tag in der Königlichen Gruft, als Tobin erwähnt hatte, dass ihm beigebracht worden war, sie sei gemeuchelt worden. Der Zauberer hatte dies entschieden geleugnet, wenngleich sowohl sein Vater als auch Arkoniel ihm dieselbe Geschichte erzählt hatten. Ihr Bruder hatte sie getötet und kurz an ihrer statt geherrscht, ehe ihn selbst ein schlimmes Ende ereilte.
Enttäuscht stahl sich Tobin von seinen Freunden davon und ging zu den versiegelten Türen des alten Thronsaals. Er drückte die Handflächen auf die geschnitzte Täfelung und wartete, hoffte, den Geist der ermordeten Königin durch das Holz zu spüren, wie er manchmal den Geist seiner Mutter an der Turmtür fühlen konnte. Angeblich spukten im Alten Palast alle möglichen Geister umher. Jeder behauptete das. Laut Korin streifte das blutige Gespenst ihrer eigenen Großmutter regelmäßig durch diese Hallen; deshalb hatte sein Vater den Neuen Palast errichten lassen.
Es schien, dass jedes Zimmermädchen und jeder Türwärter eine Geistergeschichte zu erzählen hatte, doch abgesehen von einer flüchtigen Begegnung mit Tamír im Thronsaal, hatte Tobin noch nie etwas bemerkt. Vermutlich sollte er sich darüber nicht beklagen – von Geistern hatte er bereits genug – , dennoch wünschte er manchmal, Tamír würde erneut erscheinen und sich deutlicher ausdrücken. In Anbetracht dessen, was er mittlerweile über sich wusste, war er überzeugt davon, dass sie versucht hatte, ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, als sie ihm ihr Schwert dargereicht hatte. Aber damals hatten ihn Korin und die anderen abgelenkt, und bevor er mit ihr sprechen konnte, war sie verschwunden.
War sie im Thronsaal gefangen und konnte nicht heraus?
Als er zur Bibliothek zurückkehrte, entdeckte er ein unbesetztes Zimmer unweit des Thronsaals. Dort entriegelte er eines der Fenster, öffnete es und kletterte hinaus auf den breiten Steinsims, der unmittelbar darunter entlang der Mauer verlief. Schnee drang ihm in die Schuhe, als er vorsichtig zu dem zerbrochenen Fenster vorrückte, durch das sie in der Nacht hineingelangt waren, in der sich Korin und die anderen als Geister verkleidet hatten.
Damals war es zu dunkel gewesen, um viel zu erkennen. Tobin zwängte sich hindurch und fand sich in einem riesigen, schattigen Saal wieder. Fahles Winterlicht drang trüb durch die Ritzen in den hohen Fenstern mit geschlossenen Läden.
Der abgewetzte Marmorboden zeigte immer noch Ma le, wo sich Bänke und Springbrunnen befunden hatten. To bin sah sich kurz um, dann eilte er zur Mitte des Raumes, wo der mächtige Marmorthron auf seinem erhöhten Podium stand.
Letztes Mal war er zu verängstigt gewesen, um ihn eingehend zu betrachten, doch nun sah er, dass er wunderschön war. Die Armlehnen waren wie Wellen mit Schaumkronen geschnitzt, und in die hohe Rückenlehne waren in Rot, Schwarz und Gold die Symbole der Vier eingelassen. Einst musste der Thron auch Kissen besessen haben, doch sie waren verschwunden, und in einer Ecke des breiten Sitzes hatten sich Mäuse ein Nest gebaut.
Der Saal vermittelte ein Gefühl trauriger Verwahrlosung. Tobin nahm auf dem Thron Platz, legte die Hände auf die geschnitzten Armlehnen und sah sich um, stellte sich vor, wie seine Ahninnen Bittstellern lauschten und Würdenträger aus fernen Ländern willkommen hießen. Er konnte das Gewicht der Jahre spüren. Die Ränder der Stufen des Podiums waren an einigen Stellen glatt gewetzt, wo Hunderte Menschen vor den Königinnen gekniet hatten.
Plötzlich hörte er ein Seufzen, so dicht an seinem Ohr, dass er zusammenzuckte und
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