Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin
die strickend auf dem Stuhl neben der offenen Tür hinter ihr saß. Sie hatte den jungen Mann unten auf der Mauer nicht bemerkt, bis er gewinkt hatte.
Nalia hatte nach niemandem Ausschau gehalten. Vielmehr hatte sie auf den gepflasterten Hof unter dem Turm hinabgestarrt und zum wiederholten Male abzuwägen versucht, ob sie auf der Stelle tot wäre, wenn sie hinabspränge. Es wäre so einfach. Die Brüstung war niedrig, reichte ihr kaum bis zur Hüfte. Sie könnte sich darauf stellen oder einfach darüberklettern und loslassen. Dass Tomara stark genug wäre, sie davon abzuhalten, glaubte sie nicht.
Ein Augenblick des Mutes, und sie wäre aus dieser entwürdigenden Gefangenschaft befreit.
Hätte Fürst Lutha sie nicht erschreckt, wäre es ihr vielleicht in dieser Nacht gelungen. Stattdessen hatte seine freundliche Geste sie vom Rand zurückweichen lassen und sie mit der Sorge erfüllt, Tomara könnte ihr angespanntes Verhalten bemerkt haben.
Aber sie schaute nur von ihrer Handarbeit auf und lächelte. »Es ist eine frostige Nacht, Herrin. Schließt die Tür, und ich koche uns Tee.«
Nalia setzte sich an den kleinen Schreibtisch und beobachtete, wie Tomara den Kessel vorbereitete, doch ihre Gedanken wanderten zurück zu Luthas freundlicher Geste. Sie drückte sich eine Hand auf die Brust und blinzelte sich Tränen von den Augen. Wie kann etwas so Schlichtes wie das Winken eines Fremden in der Nacht mein Herz so zum Rasen bringen? Vermutlich, weil sie in den Wochen seit dem Beginn dieses Albtraums sonst nichts erfahren hatte, was menschlicher Warmherzigkeit so nahe gekommen war.
Hätte ich den Mut, zurück hinauszugehen und zu tun, was ich vorhatte, würde er noch dort sein und es sehen? Wäre er traurig über meinen Tod? Wäre das irgendjemand?
Sie bezweifelte es. Korin und die wenigen Bediensteten und Wachen, die zu sehen ihr gestattet wurde, bezeichneten sie nunmehr als Königsgemahlin, sogar Niryn, tatsächlich jedoch verkörperte sie eine Gefangene, eine Figur in ihrem Spiel. Wie konnte es nur dazu kommen?
Sie war in Ilear so glücklich aufgewachsen. Doch Niryn – der Mann, der zuerst ihr Vormund, später ihr Geliebter gewesen war – hatte sie mit unvorstellbarer Grausamkeit verraten und erwartete sogar noch Dank von ihr.
»Hier ist es sicherer, mein Schatz«, hatte er zu ihr gesagt, als er sie an diesen schrecklichen, einsamen Ort gebracht hatte. Nalia hatte die Festung vom ersten Augenblick an gehasst, doch sie hatte versucht, tapfer zu sein. Immerhin hatte Niryn versprochen, sie öfter zu besuchen.
Doch das hatte er nicht, und einige Monate später fiel die Garnison dem Wahnsinn anheim. Ein Teil der Soldaten – jene mit den roten Falken auf den grauen Wappenröcken – hatte die Garde von Cirna angegriffen. Die Geräusche, die in jener Nacht von den Höfen an ihr Fenster drangen, waren grauenhaft gewesen. Nalia hatte mit ihrer Amme und ihrem kleinen Pagen in ihrer Kammer gekauert und gedacht, die Welt würde enden.
In jener Nacht war Niryn gekommen, allerdings nicht, um sie zu retten.
Ohne Vorwarnung oder Erklärung hatte er einen ungekämmten, hohläugigen jungen Fremden hereingescheucht, der nach Blut, Schweiß und Wein stank.
Niryn, der als Kind mit ihr gespielt, sie später die Freuden des Schlafgemachs gelehrt und sie ihr entstelltes Spiegelbild hatte vergessen lassen – jenes Ungeheuer hatte nur gelächelt und gesagt: »Nalia, ich stelle dir hiermit deinen neuen Gemahl vor.«
Sie war in Ohnmacht gefallen.
Als sie wieder zu sich kam, hatte sie auf ihrem Bett gelegen. Prinz Korin hatte daneben gesessen und sie betrachtet. Zunächst bemerkte er offenbar nicht, dass sie wach war, denn sie erkannte noch den Ausdruck des Abscheus in seinem Gesicht, bevor er verschwand. Er, der er blutig und stinkend in ihr Zimmer eingedrungen war, sah sie auf diese Weise an!
Sie waren allein, und Nalia schrie auf und schrak vor ihm zurück, da sie dachte, er wollte sie vergewaltigen.
Zugutehalten musste man Korin, dass er sich freundlich verhielt. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Frau dazu gezwungen«, sagte er. Unter all dem Dreck sah er gut aus, wie sie unwillkürlich bemerkte, und er wirkte so überaus aufrichtig. »Ihr seid von königlichem Blut, eine Verwandte. Ich hege nicht den Wunsch, Euch zu entehren.«
»Was wollt Ihr dann?«, fragte sie matt und zog sich die Decke über dem Nachthemd ans Kinn.
Darob blickte er ein wenig verwirrt drein. Vermutlich dachte er, Niryns nüchterne
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