Tamuli 2 - Das leuchtende Volk
Gedanken von sich. Es ging ihn wirklich nichts an.
Stolg war ein echter Könner mit langjähriger Erfahrung, der jede Situation für seine Zwecke zu nutzen verstand. Daß Graf Kinad mit dem Rücken zu ihm stand, bot Stolg die Möglichkeit, seine bevorzugte Methode anzuwenden. Er zog einen langen Dolch aus seinem Gürtel, schlich hinter den Grafen und stieß ihm die schmale, scharfe Klinge mit einem stählernen Knirschen durch die Schädeldecke. Die zusammensackende Leiche fing Stolg auf und legte sie zu Boden. Ein Stich ins Gehirn war immer sicher, schnell und lautlos und hinterließ keine nennenswerten Blutspuren. Ruta haßte es, die Arbeitskleidung ihres Mannes zu waschen, wenn sie voller Blut war. Stolg setzte den Fuß zwischen die Schulterblätter des Toten und zerrte die Klinge aus dem Schädel, was sich manchmal als ziemlich schwierig erwies. Ein Messer aus einem Knochen zu ziehen, erfordert große Kraft.
Stolg drehte die Leiche um und blickte eingehend in das tote Gesicht. Ein Berufsmörder versichert sich stets, daß sein Kunde auch auf Dauer bedient war.
Der Graf jedenfalls war ohne alle Zweifel tot. Seine Augen waren glasig, sein Gesicht lief blau an, und ein dünner Faden Blut sickerte ihm aus der Nase. Stolg wischte die Messerklinge ab, steckte die Waffe in die Scheide zurück und ging über den Flur wieder zu dem Fenster, durch das er eingestiegen war.
Auf der Liste, die Djukta ihm gegeben hatte, befanden sich noch zwei Namen. Mit etwas Glück konnte er in dieser Nacht noch einen zweiten Auftrag erledigen. Doch es regnete, und Stolg haßte es, im Regen zu arbeiten. Er beschloß, statt dessen nach Hause zu gehen und Ruta zu sagen, daß er diesmal ausnahmsweise nachgeben und das Schloß einbauen würde, das sie sich so sehr wünschte. Danach könnten sie mit ihrem Sohn und ihrer Tochter in die Schenke am Ende der Straße gehen und mit ihren Nachbarn ein paar Krüge Bier trinken. Es war schließlich Erntedank, und da sollte man wirklich mit seinen Freunden und seiner Familie gemütlich beisammensitzen und feiern.
Sherrok war ein kleiner wieseliger Kerl mit schütterem Haar und großem runden Schädel. Er schritt nicht, sondern huschte durch die überfüllten Straßen von Verel in Süddakonien. Tagsüber war Sherrok ein kleiner Zollbeamter, der die Zähne zusammenbiß, während er Befehle seiner tamulischen Vorgesetzten entgegennahm. Sherrok verabscheute Tamuler, und daß er in seinem Beruf ihr Untergebener war, machte ihn mitunter körperlich krank. Es war dieser Abscheu, der ursprünglich zu Sherroks Entschluß geführt hatte, Information an den charakterlosen Styriker Ogerajin zu verkaufen, mit dem ihn gemeinsame Freunde bekannt gemacht hatten. Als Ogerajin nach ein paar sorgsam formulierten Fragen geschickt hatte durchblicken lassen, daß er für gewisse Informationen viel Geld bezahlen würde, hatte Sherrok die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt, seine verhaßten Vorgesetzten zu verraten – und beachtliche Summen zu kassieren.
Die Information, die er heute abend für Ogerajin hatte, war außerordentlich wichtig. Die habgierigen, blutsaugenden Tamuler beabsichtigten die Zollgebühren um ein volles viertel Prozent zu erhöhen. Für diese Information dürfte Ogerajin tief ins Säckel greifen.
Sherrok leckte die Lippen, während er durch die lärmende Menge der Erntedankfeiernden eilte. Auf einem der Sklavenmärkte stand ein achtjähriges astelanisches Mädchen zum Kauf, ein ganz entzückendes Kind mit großen verängstigten Augen. Wenn Ogerajin sich überreden ließ, großzügig zu sein, könnte Sherrok das Mädchen vielleicht erstehen. Nie zuvor hatte er ein so junges Kind besessen, und allein die Vorstellung machte ihm die Knie weich.
Er konnte an nichts anderes denken, und deshalb war er unachtsam, als er an der schmutzigen Gasse vorbeiging – bis er spürte, wie sich ein Draht um seinen Hals zuzog.
Natürlich wehrte er sich, doch es half ihm nicht. Sein Angreifer zerrte ihn in die Gasse. Als letztes sah er in Gedanken das Gesicht des kleinen Mädchens vor sich. Es hatte tatsächlich den Anschein, als lache das Kind ihn aus.
»Du machst wirklich mehr Mühe, als du wert bist«, sagte Bersola zu dem Toten, der im Bug seines Ruderbootes lag. Bersola redete stets zu den Männern, die er getötet hatte. Viele seiner Kollegen hielten ihn für verrückt. Wahrscheinlich war er es auch tatsächlich.
Bersolas Hauptproblem war, daß er seine Arbeit ausnahmslos auf die gleiche Weise erledigte.
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