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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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muskulös, aber auch nicht besonders plump. Sie hatten einen rosigen Vanilleton mit Erdbeerflecken auf den Ellbogen, wo sie sich während ihrer Bettlektüre aufgestützt hatte. Sie hatte mütterlicherseits irische Vorfahren. Dies zeigte sich in ihrer Hautfarbe, ihren ausgeprägten Wangenknochen und ihrem breiten Gesicht. Väterlicherseits mexikanisch und deutsch. Es gab nicht viele Anzeichen des Mexikanischen. Ihr Bruder sah dunkelhäutiger aus. »Wir sind Mischlinge«, sagte sie. »Verglichen mit den reinrassigen VEKs sehe ich wie ein Mischling aus.« Aber VEKs waren nicht reinrassig, sie wurden entworfen.
    Sie hob ihr Nachthemd noch etwas höher, zog es schließlich über den Kopf und stand nackt da. Vor Kälte und der Erinnerung an ihren Traum zitternd, zwang sie sich zur Konzentration auf ihre Charakteristiken. Immer wenn sie sich zuvor nackt in einem Spiegel betrachtet hatte, hatten ihre Augen sich auf eine Stelle gerichtet, die anderen ausgeblendet, und in eine akzeptablere Form gebracht. Nun war sie in der Stimmung, sich so zu sehen, wie sie war.
    Breite Hüften, kräftiger Bauch – plump, aber kräftig. Von ihrem Vorstudium wußte sie, daß sie wahrscheinlich nur wenig Schwierigkeiten bei der Geburt eines Kindes hätte. »Zuchtstute«, sagte sie, aber es lag keine kritische Schärfe in ihren Worten. Um Kinder zu haben, mußte sie erst Männer anziehen und gerade jetzt schien es dafür nur wenig Chancen zu geben. Sie besaß die ›Attraktionspunkte‹ nicht, die so oft im Fernsehen genannt wurden oder die sie als fette Überschriften auf den LitVid-Mods gesehen hatte. Die ästhetisch vorgeschriebenen geometrischen Kurven wurden von der Natur nur sehr wenigen zugewiesen, waren nun aber so vielen durch Design zugänglich. Hat Ihr Kind den besten Entwurf für den Erfolg?
    Solch eine schockierende Trivialität. Sie fühlte in sich einen rechtschaffenen Ärger wachsen – ein anderes Gefühl, das ihr bisher unbekannt war – und nahm ihn in ihre Aufregung mit auf, da sie die positive Stimmung nicht verlieren wollte. »Vielleicht schaue ich mich nie wieder auf diese Weise an«, flüsterte sie.
    Ihre Brüste waren von nur mäßiger Größe, die linke war etwas fülliger als die rechte und hing ein wenig mehr herab. Unter ihrer linken Brust konnte sie tatsächlich einen Schreiber einklemmen, worum sich ein VEK-Mädchen auf Jahre hinaus nicht sorgen mußte, wenn überhaupt. Rippen und Muskeln waren nicht deutlich zu erkennen, sie waren abgerundet, weich. Ihr Gesicht verriet Neugierde, es war freundlich, hatte große Augen. Ihre Haut war fehlerhaft, aber nicht so schlimm, daß sie sich nicht selbst hätte erholen können. Sie hatte lange Füße und dicke Zehennägel, die nur schwer zu schneiden waren. Sie hatte noch nie an eingewachsenen Zehennägeln gelitten.
    In ihrer Familiengeschichte deutete nur wenig auf eine Tendenz zum Krebs – der nun zwar heilbar, aber immer noch quälend war – oder Herzleiden hin. Auch alle anderen Leiden von Schmelztiegelkulturen, mobilen Populationen und wechselhaften Gewohnheiten gab es kaum.
    Sie sah einen starken Körper im Spiegel, einen, der ihr gut diente.
    Und sie sah ebenfalls, daß sie mit ein wenig Make-up leicht die Rolle einer älteren Frau spielen konnte. Etwas Schatten unter den Augen, Linien, um hervorzuheben, was in dreißig oder vierzig Jahren Tränensäcke sein würden, Lachfalten…
    Aber jetzt sah sie nicht alt aus.
    Letitia kehrte, sacht auf den Teppich auftretend, um und ging wieder in ihr Zimmer. Dort angelangt, veranlaßte sie das Licht, sich einzuschalten, legte sich auf ihr Bett, nahm das Fotoalbum, das Jane ihr gegeben hatte, vom Nachttisch und blätterte behutsam die empfindlichen Seiten durch. Sie starrte auf das Gesicht ihrer Urgroßmutter und dann auf das Bild ihrer Großmutter als kleines Kind.
     
    Individualorchester wurde von drei Lehrern in einem älteren Klassenzimmer hinter der Festhalle unterrichtet. Es war ein beliebter Kurs; die Schullautsprecher waren besser als die meisten heimischen und die Lehrer waren sehr beliebt. Sie waren alle VEKs.
    Nach einer halben Stunde in der Gruppe konnte sich jeder Schüler in ein Keyboard-Abteil zurückziehen, eine geräuschdämmende Kapsel schließen, um Kakophonien zu vermeiden, und üben.
    An diesem Tage übte sie weniger als eine halbe Stunde. Dann starrte sie, die Zunge zwischen den Zähnen, in die Leere über dem Keyboard. »Geräuschdämmung zurück, bitte«, wies sie an und erhob sich von ihrer schwarzen

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