Tangenten
Licht warf riesige goldene Katzenaugen, Reifen quietschten auf glänzendem Beton, die Limousine schlängelte sich wie im Slalom um Wände und Pfeiler und staubige andere Limousinen und hielt abrupt. Die Tür öffnete sich.
Oliver stieg aus. Die Chauffeurin stand neben der Tür und hielt sie, die Kappe gezogen, lächelnd auf. »Es war mir eine Freude«, sagte sie.
Das Auto parkte neben einer hohen hölzernen Tür, die von behauenem Stein umrahmt war. In dem unebenen Gestein der Wandblöcke waren, klar und deutlich, fossile Knochen und Zähne zu erkennen. Glitzernde Farne in dunklen Teichen umsäumten die Tür. Oliver hörte das Auto wegfahren und wandte sich um, sah aber nicht, ob die Chauffeurin diesmal fuhr oder nicht.
Er ging über eine Brücke aus Holzplanken und probierte die schwarze Türklinke. Die Tür schwang bereits bei der Berührung seiner Finger auf. Jenseits führte eine schmale Treppenflucht zum oberen Geschoß. Sie war mit rotem Teppich belegt und hatte ein mit geschnitzten Rosenbüschen verziertes Ahorngeländer.
Es roch nach Nelken und Minze und irgendwie nach etwas, das Oliver mit dem Geruch von Hunden oder Pferden verband – eine muffige alte Hundedecke, die auf dem Boden lag. (Er hatte niemals einen Hund besessen und nie ein Pferd ohne einen Polizisten darauf gesehen; auch war er nicht so nahe herangekommen, um etwas zu riechen). Niemand war seit langer Zeit hier hindurchgegangen, dachte er. Aber jedermann wußte von Miss Belle Parkhurst und ihrem Aufenthaltsort. Und die Chauffeurin war jung gewesen. Er verzog die Nase; er mochte diesen Ort nicht.
Die dunkle Holztür am oberen Ende der Treppe öffnete sich leise. Niemand wartete dort – sie mochte sich von selbst geöffnet haben. Oliver versuchte etwas zu sagen, aber seine Kehle juckte, und er machte den Mund wieder zu. Er hustete in die Faust und zuckte krampfartig mit den Schultern. Dann, mit feuchten Augen und hitzig vor Zorn und Angst, bekam er seine Lippen auseinander und krächzte: »Ich bin Oliver Jones. Ich bin hier, um meine Mama abzuholen.«
Die Tür blieb leer. Er blickte zurück zur Parkgarage, die dunkel und ruhig war wie eine Höhle, dort gab es für ihn nichts mehr. Dann eilte er die Treppe hinauf, um es hinter sich zu bringen, trat durch die Tür in das berüchtigte Haus der Miss Belle Parkhurst.
Die Stadt dehnte sich bis zum entfernten Horizont. Sie war durch Straßen, Kanäle und ober- oder unterirdische Bahnschienen in Viertel unterteilt. Manchmal kannte man die Bezirke und wußte, daß man sie besser nicht durchquerte; aber manchmal wußte man es auch nicht. Die Stadt ist größer als das Leben eines jeden, und nicht zu verstehen, warum man ist, wo man ist und warum man dort bleiben muß, ist mehr wert als das Leben.
Die Stadt fördert Ignoranz, weil sie konsumieren muß.
Die vier Viertel der Stadt sind Snowside, Cokeside, wo sich die wenigen normalen Menschen aufhielten, Sleepside und Sunside. Sunside ist hell und reich und gefährlich, weil dort das Feudalvolk lebt. Das Feudalvolk duldet keine Eindringlinge. Selbst die Polizei begibt sich nicht ohne Begleitung nach Sunside. Im Zentrum der Stadt befindet sich die Oberstadt. An der Säule des Unbekannten Bürgermeisters in der Mitte der Oberstadt treffen die vier Viertel aufeinander. Außerhalb liegt die Unterstadt und die verstreuten Inseln der Vororte und niemand weiß, wo das alles endet.
Die Joneses leben in der Unterstadt von Sleepside. Selbst gegen Mittag ist das Licht dort nicht sehr hell, aber es brennt auch nicht so grell wie in Cokeside, wo es einem den Schädel versengen kann. In Sleepside kann man es aushalten. Es gibt viele gute Leute in Sleepside und Snowside, und, obwohl verworren, ist der allgemeine Lauf der Dinge nicht bösartig. Oliver wuchs dort auf, und es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne Zweifel hatte der Nachtmetrofahrer seine Herkunft gerochen und wußte, hier war ein junger Mann, der die Grenze zur Oberstadt überquerte. Ohne Zweifel war Oliver noch am Leben, weil Miss Belle Parkhurst ihn schützte. Das hieß, Miss Parkhurst hatte Mama geschützt und sie vielleicht auch angelockt.
Der Weg durch die Halle war an beiden Seiten mit Reihen von Kerzen beleuchtet, die von goldenen Leuchtern, geformt wie Adlerklauen, gehalten wurden. Am Ende der Halle trat Oliver in einen breiten holzgetäfelten Raum, der hier und da Messingspucknäpfe mit üppigen grünen Farnen enthielt. Der Orientteppich offenbarte einen stilisierten
Weitere Kostenlose Bücher