Tangenten
Plattformen voll von Schmutz und Schatten.
Einige behaupteten, die Toten würden die Nachtmetro benutzen, und daß sie nach Mitternacht den ganzen Weg nach Darkside führe. Oliver wußte nicht, was er glauben sollte. Als der Zug zu seinem Haltepunkt hin langsamer wurde, zog er den Kragen seiner dunkelgrünen Nylonwindjacke hoch und rieb sich mit einem Finger die Nase. Reggie und Denver wären nicht einmal so weit gekommen. Sie schätzten ihre Haut viel zu sehr.
Nachdem er ausgestiegen war, bewegte der Zug sich nicht weiter. Für einen Moment stand er an der geöffneten Tür, dann ging er am vorderen Wagen vorbei auf die Treppe zu. Über die Schulter sah er den Fahrer, der im Vorderteil des Wagens in seiner kleinen Kabine in fluoreszierender Kälte stand. Die Augen des Stierkopfes lagen tief im Schatten. Oliver fühlte das sternengleiche Prickeln in den Höhlen des Beobachtenden mehr, als er es sah. Die linke Hand des Fahrers zog an den Schneiden der silbernen Schere.
»Was kümmert es dich, Mann?« fragte Oliver leise und verweilte einen Augenblick, um das versteckte Starren zu erwidern. »Mach weiter mit deiner Arbeit. Wir alle haben was zu tun.«
Die Nase des Stierkopfes deutete lediglich ein von Oliver abgewandtes Zucken an, und die Hand ließ die Schere los, um sich auf einen Schalter zu legen. Die Türen des Zuges schlossen sich. Die silbernen Seiten, Fenster und Lichter nahmen Geschwindigkeit auf, und der Zug legte sich quietschend in eine Kurve in die Dunkelheit. Oliver erklomm die zwei Treppenabsätze zur Sunside-Station.
Die sommerliche Nacht lag schwer und warm auf den üppigen Bäumen und dem Gras des ausgedehnten Parks. Oliver stand vor dem Eingang zur Metro und hörte den Grillen, Heuschrecken und Zikaden zu, die ihre im baum- und graslosen Sleepside ungehörten Lieder sangen. Überall um den Park herum erhoben sich Wände aus Marmor und Backstein mit dunklen Fenstern, graue Steinhotels und gefällige Apartmentgebäude mit Giebeldächern.
Oliver sah sich nach einer Orientierung um, einer Karte oder etwas ähnlichem. Oberhalb der Nachtmetro war es sogar möglich, gewöhnliche Leute anzutreffen und sie zu fragen, wenn er es wagte. Er ging in Richtung der Straße und dachte an Mama, daß sie so weit gekommen war, und an die Angst, die sie dabei gehabt haben mußte. Er liebte Mama sehr. Manchmal schien es, als wäre sie der einzig ordentliche Teil in seinem Leben, obwohl ihn junge Frauen im Laufe der Jahre mehr und mehr ablenkten.
»Oliver Jones?«
Eine lange weiße Limousine wartete am Rinnstein. Eine junge, schlanke Frau in violetter Chauffeurslivree und einer flotten schwarz-silbernen Kappe auf ihrem üppigen Haar nickte schüchtern, lächelte ihn an und winkte ihm mit weißen Lederhandschuhen zu. »Sind Sie Oliver Jones, der kommt, um seine Mama zu retten?«
Er ging langsam auf die weiße Limousine zu. Sie war größer und schöner als alles, was er bisher gesehen hatte. Lange, gerippte Chromrohre lugten schlangengleich aus der Motorhaube hervor, reichten durch das Schutzblech. Einzigartige goldene Frontscheinwerfer und ein weißes Dach aus echtem Leder. »Mein Name ist Oliver«, bestätigte er.
»Dann sind Sie mein Mann. Bitte, steigen Sie ein.« Sie blinzelte und hielt die Tür auf.
Die Tür schloß sich und der Arm der Frau – der alles war, was er durch die rauchigen Fensterscheiben von ihr sehen konnte – verschwand. Die Fahrertür öffnete sich nicht. Sie stieg nicht ein. Die Limousine fuhr von alleine an. Oliver fiel in ein mit Wildleder und Samt überzogenes Innere zurück. Ein elektrischer Flüssigkeitsspender schimmerte silbern, golden und schwarz über einem kaltweiß beleuchteten Paneel, auf dem ein einzelnes Kristallglas mit Eiswürfeln stand. Ein Zapfhahn drehte sich und wartete auf Anweisung. Als keine gegeben wurde, goß er gutriechenden Gin über das Eis und drehte sich zurück auf seinen Platz.
Oliver rührte das Glas nicht an.
Unter dem Flüssigkeitsspender schaltete sich automatisch ein Fernseher ein. Lust und Leidenschaft drang aus kleinen Lautsprechern. »Nein«, sagte er. »Nein!«
Der Fernseher ging aus.
Er rückte näher an die rauchige Scheibe und sah gedämpfte Straßenbeleuchtung und vorbeihuschende Taxischeinwerfer. Ein großes schwarzes Gebäude, geschmückt mit schwarzen Ornamenten und rot umrahmten Fenstern zeichnete sich nach einer Kurve ab; bis auf drei Fenster waren alle unbeleuchtet. Die Limousine bog ab und fuhr hinab in eine unterirdische Garage. Das
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