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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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orientalischen Garten in Cremefarbe, Schwarz und Rot. Fünf leere schwarze, samtgepolsterte Couchen standen dort – unbesetzt, erwartungsvoll, wie eine Reihe schmachtender Frauen inmitten der Farne. Entlang der Wände zeigten mit Leinen bezogene Stühle ihre hölzernen Armlehnen. Oliver blieb stehen und staunte über diesen für ihn ungewohnten Luxus. Er brauchte einige Zeit, um dies alles in sich aufzunehmen.
    Miss Belle Parkhurst war offensichtlich eine sehr wohlhabende Frau und nicht bloß irgendeine Hure. Aus dem, was er bisher gesehen hatte, ließ sich schließen, daß sie nicht nur über Geld, sondern auch über Macht verfügte, Macht über Autos und vielleicht über Männer und Frauen. Vielleicht über Mama. »Mama?«
    Ein großer dünner, weißhaariger Mann in einem cremefarbenem Anzug ging durch den Raum und beachtete Oliver nicht. Er sagte nichts. Oliver beobachtete, wie er sich auf einen leinenüberzogenen Stuhl setzte. Er brachte die Leinenbezüge nicht in Unordnung, sondern setzte sich durch sie hindurch, lehnte seinen Kopf nachdenklich zurück und hob eine Zigarettenspitze ohne Zigarette hoch. Er blies klare Luft aus, oder vielleicht überhaupt nichts, und lächelte dann direkt rechts von Oliver etwas an. Oliver wandte sich um. Sie waren allein. Als er sich wieder umsah, war der Mann im cremefarbenen Anzug verschwunden.
    Olivers Arme prickelten. Er war in etwas hineingeraten, mit dem er nicht gerechnet hatte, und er hatte mit vielem gerechnet.
    »Hierher«, sagte die tiefe Stimme einer Frau opernhaft, würdevoll, ungezwungen und freundlich zugleich. Er konnte sie nicht sehen, aber er blinzelte zum Eingang, und sie trat zwischen zwei Aushöhlungen in grünen Onyxsäulen hervor. Er bemerkte nicht sofort, daß sie ihn meinte; es mochte durchaus noch andere Gentlemen oder Mädchen geben, genauso dünn wie der Mann im cremefarbenen Anzug. Aber diese kleine, imposante Frau mit erhobenen Händen, bekleidet mit goldener und pfirsichfarbener Seide, die sich faltenlos an sie schmiegte, beobachtete aus ihren großen dunklen Augen nur ihn. Sie lächelte warmherzig, aber Oliver dachte, einen verborgenen Bruch in diesem Lächeln, ihrer Selbstsicherheit, zu entdecken. Von dem Augenblick an, als sich ihre Augen trafen, fühlte sie sich unbehaglich, obwohl sie sich vorher behaglich gefühlt haben mochte, lediglich daran denkend, ihn zu treffen. Sie hatte alle Dinge bis zu diesem Moment geplant gehabt.
    Wenn er sie etwas aus der Ruhe brachte, erschreckte ihn diese Frau in positivem Sinne. Sie war schön und hatte eine glatte Haut, und er konnte süßen Rosenduft riechen und Kamelien und Magnolienblüten, die sie umgaben wie eine Schar lieber Freunde.
    »Hierher«, wiederholte sie und machte eine Geste in Richtung der Tür.
    »Ich komme wegen meiner Mama. Ich soll mich mit Miss Belle Parkhurst treffen.«
    »Ich bin Belle Parkhurst. Sie sind Oliver Jones… nicht wahr?«
    Er nickte mit ernstem Gesicht und großen Augen. Er nickte erneut und schluckte.
    »Ich habe Ihre Mama nach Hause geschickt. Ihr geht es gut.«
    Er blickte zurück zum Weg durch die Halle. »Sie wird die Nachtmetro nehmen«, sagte er.
    »Ich habe sie mit meinem Auto nach Hause geschickt. Ihr wird nichts geschehen.«
    Oliver glaubte ihr. Es entstand ein langer Moment der Stille. Er wurde gewahr, daß er seine Hände vor seinem Schoß verdrehte und rang und hörte verlegen damit auf.
    »Ihre Mama ist wohlauf. Sie brauchen sich ihretwegen nicht zu sorgen.«
    »In Ordnung«, sagte er und zuckte die Achseln. »Sie wollten mich sprechen?«
    »Ja«, sagte sie. »Und mehr.«
    Seine Nasenflügel blähten sich, seine Augen ruckten nach rechts, sein Torso und dann auch seine Hüften und Beine verdrehten sich ebenfalls in diese Richtung, und er brach in einem karnickelartigen Lauf zur Halle aus. Die goldenen Adlerklauen auf beiden Seiten des Weges ließen ihre Kerzen fallen und griffen mit ihren Krallen nach ihm. Das große Haus schien plötzlich erwacht zu sein, und noch bevor eine Klaue seinen Kragen erwischte, wußte er, daß er keine Chance hatte.
    An den Achseln seiner Jacke gepackt, hing er hilflos am Ende der Halle. In der entfernt liegenden Tür erschien verärgert die Hure. Ihre Finger versprühten kleine Tropfen von Feuer auf den Holzboden. Der Boden rauchte und knisterte.
    »Ich habe Ihre Mama gehen lassen«, sagte Belle Parkhurst mit einer Stimme wie aus dem Grab, das Gesicht erschreckend und wundervoll glatt und sehr alt, sehr erfahren. »Das war mein

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