Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
in der Farbe frischen feuchten Grases; es reichte vom Hals bis zu den Waden. Neben dem Dress trug sie weiße Halbstiefel und weiße Handschuhe, eine weiße Feder ringelte sich um ihr schwarzes Haar.
    »Guten Morgen«, erwiderte er leise und höflich.
    »Haben Sie gut geschlafen? Herzhaft gegessen?«
    Oliver nickte, Angst und Schüchternheit kehrten zurück. Was wollte sie ihm nur geben? Sich selbst? Sein Gesicht wurde heiß.
    »Es ist eine Schande, daß das Haus tagsüber leer ist«, sagte sie. Und bei Nacht? dachte er. »Ich könnte diesen Raum mit Übungsgeräten füllen«, fuhr sie fort. »Gewichtsbänke, vielleicht sogar eine Laufbahn außen herum.« Sie lächelte. Das Lächeln schien nun weniger grausam, sogar versonnen zu sein – jünger.
    Er rieb eine Falte seines Hemdes zwischen zwei Fingern. »Ich habe das Essen genossen, und Ihr Haus ist wirklich schön, aber ich würde lieber nach Hause gehen«, sagte er.
    Sie wandte sich halb um und entfernte sich langsam vom Podium. »Du könntest dieses Haus und all meinen Reichtum haben. Ich möchte, daß du es bekommst.«
    »Warum? Ich habe nicht das Geringste für Sie getan.«
    »Oder gegen mich«, sagte sie und blickte ihn geradeheraus an. »Sie wissen, wie ich an all dieses Geld gekommen bin?«
    »Ja, Ma’am«, sagte er nach einer kurzen Weile. »Ich bin kein Narr.«
    »Sie haben also von mir gehört. Daß ich eine Hure bin.«
    »Ja, Ma’am. Mrs. Diamond Freeland sagt, daß Sie eine sind.«
    »Und was ist eine Hure?«
    »Sie lassen Männer für Geld an sich ran«, sagte Oliver und fühlte sich kühner, sein Gesicht war allerdings immer noch heiß.
    Miss Parkhurst nickte. »Ich habe diese Dinge alle von ihnen«, sagte sie. »Meine Buchhaltung. Ich kenne jeden Namen, jedes Gesicht. Sie bleiben mir treu, auch wenn die Geschäfte nur schleppend laufen.«
    »Jeden von ihnen?« fragte Oliver.
    Miss Parkhursts mattes Lächeln war stolz, und schwermütig zugleich; ihre Augen starrten feucht in die Ferne. »Sie gaben mir all die Dinge, die ich hier habe.«
    »Ich denke nicht, daß sie es wert sind«, sagte Oliver.
    »Ich wäre tot, wäre ich keine Hure«, sagte Miss Parkhurst und richtete plötzlich ihre vor Ärger scharf blitzenden Augen auf ihn. »Ich wäre verhungert.« Sie entspannte ihre verkrampften Hände. »Wir haben eine Menge Zeit, um über mein Leben zu sprechen, also lassen wir es für jetzt gut sein. Ich habe etwas, das Sie brauchen, wenn Sie diesen Ort erben.«
    »Ich möchte es nicht, Ma’am«, sagte Oliver.
    »Wenn Sie es nicht nehmen, nimmt es jemand anders, der es nicht braucht und es viel weniger verdient. Ich möchte, daß Sie es bekommen. Bitte, seien Sie nur dieses eine Mal freundlich zu mir.«
    »Warum ich?« fragte Oliver. Er wollte einfach nur raus. Dies alles widersprach völlig seinem geplanten Leben. Er fürchtete sich nun weniger vor Miss Parkhurst, obwohl sich ihm bei ihrem Ärger die Nackenhaare sträubten. Er spürte, daß er kühner sein könnte und vielleicht sogar verlangend. Es gab eine Schwäche in ihr: er war ihre Schwäche, aber er war zu erhaben darüber, daraus einen Vorteil zu ziehen, auch wenn er bedachte, wie verzweifelt seine Situation war.
    »Sie sind freundlich«, sagte sie. »Fürsorglich. Und Sie hatten noch nie eine Frau.«
    Olivers Gesicht wurde erneut heiß. »Bitte lassen Sie mich gehen«, sagte er ruhig und hoffte, daß es nicht klang als würde er betteln.
    Miss Parkhurst kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich kann nicht«, sagte sie.
     
    Während Oliver seinen ersten Tag in Miss Parkhursts Haus verbrachte, kehrten in einem anderen Teil der Stadt, jenseits der Grenze von Sunside, Denver und Reggie Jones nach Hause zurück, um ihr Apartment von Düsternis bedeckt vorzufinden. Reggie, groß und schlaksig, mit langem Hals, kleinem Kopf und einer Hakennase, stand mit hängenden Schultern in der Diele. Vor Überraschung stand ihm der Mund offen. »Er ist einfach los und hat euch alle hier zurückgelassen?« fragte Reggie. Denver kam aus der Küche zurück, kleiner und stämmiger als sein Bruder, bekleidet mit einer schwarzen Vinyljacke und einer Hose.
    Yolandas Gesicht war vom stetigen Weinen aufgedunsen. Sie genoß nun die Tränen, die sie vergoß und hatte dabei einen Zwei-Stunden-Rhythmus angenommen, der ihre sorgenvolle Mama verwirrte. Sie hütete die zwei Babys in Mamas Schlafzimmer, schloß ein wackliges Gatter hinter ihnen und putzte dann ihre Hände an ihrer lappigen Bluse ab.
    »Ihr habt es nicht verstanden«,

Weitere Kostenlose Bücher