Tangenten
Abkommen. Wenn Sie gehen und das Abkommen brechen, heißt das, daß ich mir Ihre Schwester hole; oder ich hole mir Ihre Mama zurück.«
Sie hob eine elegante, nachgezogene Augenbraue und neigte ihren Kopf fragend zur Seite. Er nickte, so gut er es vermochte, da sein Kinn gegen den Reißverschluß seiner Jacke gepreßt war.
»Gut. Essen wartet auf uns. Ich möchte mich Ihrer Gesellschaft erfreuen.«
Das Eßzimmer war klein, nicht größer als sein Schlafzimmer zu Hause. Es gab zwei Stühle und einen runden Tisch mit einer Decke aus weißem Leinen. Ein goldener Kandelaber in Form einer Adlerklaue warf ein warmes Licht über die Tischplatte. Miss Parkhurst ging Oliver voraus, ihr langes Kleid raschelte leise an ihren Fersen. Es raschelten noch andere Dinge im Raum; der Boden mochte dem Geräusch nach knöchelhoch mit windbewegten Blättern bedeckt sein, aber er war tadellos. Ein kostbarer runder, rot und cremefarbener Orientteppich lag mitten unter dem Tisch und darunter befand sich ein glatter alter Eichenboden. Oliver blickte von seinen Segeltuchschuhen auf. Miss Parkhurst wartete erwartungsvoll einen Schritt hinter ihrem Stuhl.
»Ihre Mama hat Ihnen keine Manieren beigebracht?« fragte sie leise.
Er näherte sich zögernd dem Tisch. Dort lagen nun leere Goldteller und Tischwäsche auf dem Leinen. Servietten schienen aus dünnem Nebel zu fallen und falteten sich selbst auf den Tellern. Oliver verweilte mit geblähten Nasenflügeln.
»Beachten Sie es gar nicht«, sagte Miss Parkhurst. »Ich lebe allein hier. Gute Hausangestellte sind nur schwer zu finden.«
Oliver trat hinter den Stuhl, hob ihn an seiner Ahornlehne an und schob ihn ihr zurecht. Sie setzte sich und er half ihr, näher zum Tisch rücken. Nicht einmal berührte er sie; er bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran.
»Das Essen hier ist sehr gut«, sagte Miss Parkhurst, als er ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Ich bin nicht hungrig«, sagte Oliver.
Sie lächelte ihn herzlich an. Es war ein machtvolles Instrument, ihr Lächeln. »Ich beiße nicht«, sagte sie. »Außer beim Essen. Da beiße ich zu.«
Oliver roch wundervolle Gewürze und süßen Weinessig. Eine Serviette war über seinem Schoß ausgebreitet worden und vor ihm stand ein Salat auf einem dünnen Porzellanteller. Er war sehr hungrig und ihm schmeckten Salate; frisches Gemüse bekam man in Sleepside nur selten zu Gesicht.
»So ist’s recht«, sagte Miss Parkhurst besänftigend und lächelte, während er aß. Sie erhob ebenfalls ihre Gabel und spießte ein Blatt Salat mit Olivenöl auf und führte es an die Lippen.
Der Rest des Essens verlief in gleicher Weise, aber ohne weitere Unterhaltung. Sie beobachtete ihn freimütig und abschätzend, und er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
Miss Parkhurst führte ihn einen großen Korridor mit großen Fenstern in der Ostmauer entlang in sein Zimmer. Dämmerungsgraue und rosa Schatten spielten um ihre undeutlichen Silhouetten an der Westmauer. »Es ist der ruhigste Ort im ganzen Haus«, sagte sie.
»Sie behalten mich hier«, sagte er. »Sie lassen mich nie mehr gehen?«
»Bitte erlauben Sie mir, etwas nachsichtig mit mir selbst zu sein. Ich bin nicht nur allein. Ich bin einsam. Hier können Sie alles haben, was Sie wollen… fast alles…«
Eine Tür am Ende des Korridors öffnete sich von allein. Dahinter brannte ein helles Feuer in einem kleinen Kamin und ein breites Bett mit zurückgeschlagener Decke erwartete ihn. Detailgetreue Wandgemälde von Wäldern und Feldern bedeckten die Wände; die Decke war tiefblau, durchzogen von Gold- und Silberflecken und juwelenartigen Sternen. Bücher füllten einen Schrank in der Ecke und in einer weiteren Ecke stand das schönste Ebenholzpiano, das er je gesehen hatte. Miss Parkhurst kam der Tür nicht zu nahe. Es gab keine Kerzen. Im Raum funktionierten alle Lampen elektrisch.
»Dies ist Ihr Zimmer. Ich werde nicht eintreten«, sagte sie. »Und ab heute abend kommen Sie niemals nach Einbruch der Dunkelheit heraus. Wie reden miteinander und sehen uns während des Tages, aber niemals des Nachts. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich muß Ihnen vertrauen.«
»Ich kann jederzeit gehen, wenn ich will?«
Sie lächelte. Selbst jetzt wirkte ihr Lächeln nicht anders als rätselhaft; ihn schauderte. Sie war tödlich schön, die Art Frau, von denen seine Brüder träumten. Ihr Lächeln besagte, daß sie ihn lebendig verschlingen könnte, alles von ihm, was zählte. Oliver konnte sich die
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