Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Wörterbuch gab keine Antwort. Sie überkreuzte die Beine im Lotussitz neben dem Buch und wartete auf den Staub eines jeden Wortes, die mikroskopischen, homöopathischen Stücke von Tinte, jedes aufgeladen mit der Form eines Buchstabens, eines Wortes, um zwischen die Fasern des Papiers geschüttelt zu werden und mit allen anderen zu konferieren.
    Trockene Magie. Die Worte rochen süß in der kühlen Mitternachtsbrise. Tote Tintenstücke, aufgeladen mit Gedanken, erhoben sich.
    Veni.
    Ihre Zunge schwoll mit der Trockenheit der Tinte an. Sie entfaltete sich und legte sich flach auf ihren Bauch, um den rauhen Teppich ihre Haut mit Kreuzworträtsellinien zu bedecken.
    Miss Coates legte das Wörterbuch so hin, daß sie die offenen Seiten sehen konnte. Ihr Finger suchte die Seite ab und fand ein Wort. Sie keuchte. Mann, sagte es, so klar, als käme es aus der Nähe ihrer farblosen Nägel. Mann! Sie bewegte den Finger und saugte ihren Atem ein.
    »Da ist ein Mann in dir!« sagte sie zu dem Buch und lachte. Es war ein Scherz, letzten Endes; soweit war sie nicht weggetreten. Grinsend rieb sie ihren Finger gegen die Innenseite ihrer Wange und preßte die Feuchtigkeit auf das Wort. »Hier«, sagte sie. »Einige meiner Zellen.« Oh, sie war clever, sie war brillant! »Klone sie.« Dann überlegte sie es sich anders und sagte: »Aber laß ihn nicht so aussehen wie ich. Ändere ihn mit deinen medizinischen Wörtern ab, Gesichtsoperation und Eugenik und Genotyp.« Die Seite verdunkelte sich dort, wo sie mit ihrer Fingerspitze gedrückt hatte. Die Tinte verlief nicht. Sie schloß das Buch und kehrte in den Lotussitz zurück. Wie mein Stamm sich aus der Blüte meiner Beine und dem Sitz meines Schoßes, so, Mann, erhebe dich aus dem Buch der Bücher.
    Würde es donnern? Nur Stille. Das Wörterbuch erbebte und die Bibel sah im Schatten dunkel aus. Die gelbe Birne in der beschirmten Lampe summte schwach. Die Luft wurde drückend. Zögere nicht, sagte sie sich. Verlier nicht das Vertrauen, laß die Blüte deiner Beine und den Sitz deines Schoßes nicht fallen. Etwas Blut? Oder Milch? Katalysatoren… Oder, Gott behüte, etwas Lebendes, eine Fliege zwischen den Seiten, das Herz eines Vogels oder… – sie schauderte, ihr war beinahe schlecht vor Aufregung, vor einer Art Gläubigkeit – die klare Saat eines toten Mannes.
    Das Buch. Es bewegte sich. Es atmete.
    »Das war es«, wisperte sie ehrfürchtig. »Es weiß wie.«
    Es saugte Wärme aus der Luft. Frost haftete an seiner braunen Bindung. Das Cover flog zurück. Nur ein plötzlicher Wind vom Fenster, der durch den Raum fegte. Die Seiten flatterten, aber zwei steckten zusammen, wanden sich, schwollen an… teilten sich.
    Aufgehen, eine Gestalt, Arme ausgebreitet, wirbelnd wie ein Eisläufer, Staub und Luft und Hitze in sich hineinsaugend, sich verdichtend und verbindend.
    Ansehnlich! Mache ihn ansehnlich und markig und nett und so gepflegt wie mich, wenn nicht noch gepflegter. Mach ihn wie einen Vater, aber nicht wie meinen Vater, und wie einen Sohn und einen Liebhaber, besonders wie einen Liebhaber, mach ihn warm und gib ihm einen Atem, der meine Lippen schmelzen läßt und mein Haar weich werden läßt wie der Dunst im Dschungel. Konzentriere dich darauf – ja lang und stark und vollständig. Er sollte warme, trockene Tage mögen und Spaziergänge an Seen, und Angeln, aber eigentlich mag er es mehr, mir vorzulesen als zu angeln. Und er sollte kalte Wintertage mögen und Eislaufen zusammen mit mir. Er könnte… – wenn du mir erlaubst das vorzuschlagen – er könnte braune Haare mit einem roten Ton haben, und seine Wangen könnten rauh sein von frischem, jungem Bart, den ich beim Wachsen beobachten kann, und er sollte…
    Seine Augen! Sie blitzten, als er sich drehte, geschmolzene Leuchtfeuer noch immer unbestimmt. Seine Nase wurde sichtbar, und sie stimmte zu. Sein Haar tanzte und schimmerte dunkelbraun, mit einer Andeutung von Rot. Arme, Finger, Beine wimmelten vor Worten. Ein Ameisennest von ›Füßen‹ aus Trockentinte und zusammengedrängt an seiner Basis, ein Wirrwarr von ›Fersen‹ und ›Knöcheln‹. Dann – wurden die Worte zu Fleisch und Knochen.
    Seine Brust war stark und breit und hatte dunkle Warzen. Die Haare auf seinem Brustkorb waren dunkel und seiden. Er drehte sich immer noch. Sie schrie auf, starrte auf seinen Unterleib.
    Kleidung? »Ja!« sagte sie. »Ich habe keine Kleidung für Männer.«
    Ein Anzug, ein rosa Hemd mit Manschettenknöpfen und

Weitere Kostenlose Bücher