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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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und zu reden. Die Luft war angefüllt mit ihm. Voll der Worte, die nicht die ihren waren, unorganisiert, potentiell. Sie atmete mit einer Million willkürlicher Gedanken, tief oder oberflächlich, komplex oder simpel, eloquent oder obszön. Webster wurde zu einem Generator. Sich im Apartment aufhaltend reagierte seine Substanz mit sich selbst; weggesperrt vor der Erfahrung machte er sich seine eigenen Muster und Unterteilungen, so fein wie Rauch.
    Selbst wenn er reglos lag, auf eine leichte Bewegung der Luft durch das Fenster wartend, um ihn abzukühlen, arbeitete es in ihm, und sein Atem erfüllte die Luft mit Potential.
    Aber Regina war müde und herrlich erfüllt, und diese Befriedigung wenigstens gehörte ihr. Sie aalte sich darin und schlief ein.
    Am Morgen lag sie allein im Bett. Sie schüttelte die Bettdecken ab und tapste ins Wohnzimmer, zog ihr faltiges Nachthemd aus und zitterte in der Morgenfrische. Er stand wieder am Fenster – nackt, und kümmerte sich nicht darum, ob Leute von der Straße aufschauten und ihn sahen.
    Sie stand neben ihm und umschloß mit ihren Fingern behutsam seinen Oberarm, lehnte ihre Wange gegen seine Schulter. Eine Bewegung, die so natürlich geschah, daß sie sich selbst mit ihrer Anmut überraschte. »Was möchtest du?« fragte sie.
    »Nein«, sagte er knapp. »Die Frage ist, was willst du?«
    »Ich möchte Frühstück. Du mußt inzwischen hungrig sein.«
    »Nein.«
    »Ich möchte essen«, fuhr sie hartnäckig fort und ließ seinen Arm los. »Möchtest du etwas Milch?«
    »Nein.«
    »Ich möchte nicht, daß du krank wirst.«
    »Ich werde nicht krank. Ich werde nicht hungrig. Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    »Ich liebe dich«, sagte sie wenig anmutig.
    »Du liebst mich nicht. Du brauchst mich.«
    »Ist das nicht das gleiche?«
    »Ganz und gar nicht.«
    »Sollen wir heute ausgehen?« fragte sie leichthin und wich etwas zurück, als sie gewahr wurde, daß sie, mit leichter, fließender Stimme, die armselige Imitation einer Schauspielerin abgab.
    »Ich kann nicht. Ich werde nicht krank. Ich werde nicht hungrig. Ich gehe nicht aus.«
    »Du bist begriffsstutzig«, sagte sie bockig, mit Tränen in den Augen, und haßte diesen Ton. Wie muß ich mich verhalten? Ist er mein oder bin ich sein?
    »Begriffsstutzig, scharfsinnig, gleichseitig, gleichschenklig, Vektor, Derivat, sequentiell, analytisch-integrativ, Mersauvin-Kräfte…« Er schüttelte den Kopf und grinste bekümmert. »Das ist die Zukunft der Mathematik für das nächste Jahrhundert.«
    »Hast du heute Nacht darüber nachgedacht?« fragte sie. Sie interessierte sich nicht für Mathematik; was konnte ein Mann, der aus Worten gemacht war, von Zahlen wissen?
    »Die Worte mischen sich im Blut, mein Blut ist aus Worten gemacht… Ich kann nicht aufhören zu denken, selbst heute Nacht nicht. Worte sind auch Zahlen. Zeichen, Maße und Relationen, Variablen und Grade.«
    »Du bist Fleisch«, sagte sie. »Ich habe dir Substanz gegeben.«
    »Du hast mir die Existenz gegeben, aber keine Substanz.«
    Sie lachte rauh, fing sich und zwang sich, wieder ernst zu werden. Sie ergriff seine Hand und führte ihn zum Stuhl. Sie küßte ihn auf die Wange – eine keusche Geste in Anbetracht ihrer Nacktheit. Sie sagte, sie würde den ganzen Tag bei ihm bleiben, um ihm zu helfen, sich zu orientieren. »Aber morgen müssen wir dir einige neue Sachen kaufen.«
    »Sachen«, sagte er sanft und lächelte, als wäre alles in Ordnung. Sie beugte den Kopf vor und lächelte zurück, ein Feuer breitete sich von ihrem Bauch aus, ergriff Beine und Arme. Mit einem leichten Schritt und einem Sprung tanzte sie mit schwingendem Haar auf dem Teppich. Webster beobachtete sie, immer noch lächelnd.
    »Und bring doch ein weiteres Wörterbuch mit«, sagte er.
    »Natürlich. Wir können dieses nicht mehr gebrauchen, oder? Noch mal das gleiche?«
    »Das ist egal«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    Die Ungewißheit von Websters introvertierten Nachmittagsstunden wurde für Regina Coates zu einem stumpfen, zuckerüberzogenen Schmerz. Sie versuchte, ihre Ängste nicht zu beachten – daß er sie enttäuschend fand, unzureichend; daß er schwächer wurde, verblaßte – und argumentierte, daß sie, wenn sie seine Herrin war, ihn dazu bringen konnte, zu tun oder zu sein, was sie wünschte. Es sei denn, sie wußte nicht, was sie wollte.
    Konnte das Verhalten eines Mannes gewünscht werden, oder mußte es einfach erfahren werden?
    Des Nachts ergossen sich die Worte

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